Phnomenologie und Psychopathologie Vorlesung Wintersemester 201920 Thomas Fuchs

  • Slides: 167
Download presentation
Phänomenologie und Psychopathologie Vorlesung Wintersemester 2019/20 Thomas Fuchs

Phänomenologie und Psychopathologie Vorlesung Wintersemester 2019/20 Thomas Fuchs

Überblick Einführung - Anthropologische Bedingungen psychischer Krankheit - Phänomenologische Psychopathologie Leiblichkeit - Phänomenologie des

Überblick Einführung - Anthropologische Bedingungen psychischer Krankheit - Phänomenologische Psychopathologie Leiblichkeit - Phänomenologie des Leibes - Psychopathologie der Hyperreflexivität - Depression und Leiblichkeit - Anorexia Nervosa

Überblick Affektivität - Phänomenologie von Gefühlen, Stimmungen und Atmosphären - Die Angst - Soziale

Überblick Affektivität - Phänomenologie von Gefühlen, Stimmungen und Atmosphären - Die Angst - Soziale Phobie - Das Unheimliche

Überblick Zeitlichkeit - Phänomenologie der Zeitlichkeit - Depression als Desynchronisierung - Chronopathologie von Überforderungssyndromen

Überblick Zeitlichkeit - Phänomenologie der Zeitlichkeit - Depression als Desynchronisierung - Chronopathologie von Überforderungssyndromen (Burnout) - Fragmentierte Identität (Borderline Störungen)

Überblick Selbst und Selbststörungen - Phänomenologie des Selbst - Depersonalisation und Schizophrenie - Demenz

Überblick Selbst und Selbststörungen - Phänomenologie des Selbst - Depersonalisation und Schizophrenie - Demenz und Personalität Intersubjektivität und ihre Störungen - Phänomenologie der Intersubjektivität - Autismus - Schizophrenie

Phänomenologischer Ansatz Edmund Husserl (1859 1938) Karl Jaspers (1883 1969)

Phänomenologischer Ansatz Edmund Husserl (1859 1938) Karl Jaspers (1883 1969)

Karl Jaspers (1883 1969)

Karl Jaspers (1883 1969)

Karl Jaspers (1883 1969) 1913 1973

Karl Jaspers (1883 1969) 1913 1973

Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie „Wir bringen uns die einzelnen seelischen Qualitäten, die Art, wie

Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie „Wir bringen uns die einzelnen seelischen Qualitäten, die Art, wie den Kranken etwas im Bewusstsein gegeben ist, zur möglichst klaren Vergegenwärtigung (…) Hierbei sehen wir noch ganz ab von der Entste hung der Phänomene, dem Auseinanderhervorgehen seelischer Phänomene, theoretischen Vorstellungen über Zugrundeliegendes“ (Allgemeine Pscyhopatho logie, 1973, S. 18). Grundstrukturen des Bewusstseinsstroms

Phänomenologische Ansätze Deskriptive Phänomenologie „anschauliche Vergegenwärtigung“ der Erlebnisse des Kranken durch empathisches und imaginatives

Phänomenologische Ansätze Deskriptive Phänomenologie „anschauliche Vergegenwärtigung“ der Erlebnisse des Kranken durch empathisches und imaginatives Sich Hineinversetzen (Jaspers 1913) Eidetische Phäno menologie(eidos = Wesen) Herausarbeitung von Wesenszügen, Grundmustern oder Typologien psychopathologischer Phänomene durch imaginative Variation (Durchspielen verschie dener Erfahrungsbedingungen) oder typische Einzelfallstudien

Phänomenologische Ansätze Transzendentale Phänomenologie Analyse von Störungen der „transzendentalen“ Organisation von Bewusstsein, v. a.

Phänomenologische Ansätze Transzendentale Phänomenologie Analyse von Störungen der „transzendentalen“ Organisation von Bewusstsein, v. a. im psychotischen Erleben (Raum, Zeit, Objektkonstitution, Selbst, Intersubjektivität u. a. )

Moderne phänomenologische Psychopathologie Zentrale Struk turen des Bewusstseins: Inten tionalität, Leiblichkeit, Räumlichkeit, Zeit lich

Moderne phänomenologische Psychopathologie Zentrale Struk turen des Bewusstseins: Inten tionalität, Leiblichkeit, Räumlichkeit, Zeit lich keit, Dingkonstitution, Intersubjektivität Einheit von Subjektivität und Welterfahrung Krankheit weder als ein rein objektives, im Gehirn lokalisierbares Geschehen als Erleben im verborgenen „Innenraum“ des Psychischen Die Krankheit ist nicht „im Patienten“, sondern der Patient ist „in der Krankheit“.

Moderne phänomenologische Psychopathologie Psychisches Kranksein zeigt sich im Erlebenso wie im leiblichen Erscheinen und

Moderne phänomenologische Psychopathologie Psychisches Kranksein zeigt sich im Erlebenso wie im leiblichen Erscheinen und Verhalten, in der Zeitlichkeit des Lebensvollzugs, in den Beziehungen zu den anderen, kurz: im gesamten In der Welt Sein des Kranken. „Der Patient ist krank, das heißt, seine Welt ist krank“. (Jan van den Berg 1970)

Moderne phänomenologische Psychopathologie Methode der „phänomenologischen Reduktion“: von Objektivierungen, Erklärungen und Interpretationen zurück zu

Moderne phänomenologische Psychopathologie Methode der „phänomenologischen Reduktion“: von Objektivierungen, Erklärungen und Interpretationen zurück zu den ursprünglichen, Erlebnisformen (Husserl: „zu den Sachen selbst“) „Epochè“: „Einklammerung" von Vorannahmen, Deutungsmustern, Theorien

Phänomenologische Psychopathologie Grundfragen: • Wie ist es, in einem bestimmten psychischen Zustand zu sein?

Phänomenologische Psychopathologie Grundfragen: • Wie ist es, in einem bestimmten psychischen Zustand zu sein? • Wie erlebt der Patient Leib und Raum? • Wie erlebt der Patient Zeit? • Wie erfährt der Patient seine Welt? • Inwieweit ist der Patient in der Lage, sich in andere einzufühlen und ihre Perspektive zu übernehmen?

Phänomenologischer Ansatz Subjektivität als Verhältnis zur Welt, nicht als Objekt Erfassung der Form und

Phänomenologischer Ansatz Subjektivität als Verhältnis zur Welt, nicht als Objekt Erfassung der Form und Struktur, nicht des Inhalts der subjektiven Erfahrung Symptome werden in Bezug zum Subjekt und zur bewussten Erfahrung als ganzer gesetzt Beispiel: “Deprimiertheit” in verschiedenen Erkrankungen

Phänomenologische Psychopathologie Einbettung der Einzelmerkmale in die Gesamtheit des Welt und Selbstverhältnisses des Patienten

Phänomenologische Psychopathologie Einbettung der Einzelmerkmale in die Gesamtheit des Welt und Selbstverhältnisses des Patienten gibt den Symptomen erst ihre diagnostische Wertigkeit Phänomenologische Erfassung des Selbst und Weltverhältnisses Beschreibung in Kategorien wie Leiblichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Intentionalität, Intersubjektivät u. a.

Phänomenologische Psychopathologie Frage nach dem “Grundmuster” einer Erkrankung (z. B. Schizophrenie als “disembodiment”, Depression

Phänomenologische Psychopathologie Frage nach dem “Grundmuster” einer Erkrankung (z. B. Schizophrenie als “disembodiment”, Depression als Störung der Zeitigung) Bildung von Prototypen (z. B. “Typus Melancholicus”)

A. Leiblichkeit

A. Leiblichkeit

Leib Sein und Körper Haben Grundpolarität der Leiblichkeit (implizit versus explizit) - „fungierender Leib“

Leib Sein und Körper Haben Grundpolarität der Leiblichkeit (implizit versus explizit) - „fungierender Leib“ (Husserl): Leib als Medium der Weltbeziehung, agiert im Hintergrund - gespürter, affizierbarer Leib - Körper als „Instrument“, besonders in Störungen erfahrbar - anatomischer Körper

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit

Kasuistik ”Seit ich krank geworden bin, lebe ich unter einem ungeheuren Druck, einer riesigen

Kasuistik ”Seit ich krank geworden bin, lebe ich unter einem ungeheuren Druck, einer riesigen Last, die mich zusammenpresst, der ich nichts entgegensetzen kann. Nicht nur die Willenskraft und Selbstdisziplin, auch andere Worte haben ihren Sinn für mich verloren. Eigentlich alle Worte, die das im Menschen bezeichnen, was ihn zum Menschen macht: Liebe, Gefühl, Einsicht, Vernunft. . . Die tägliche Arbeit steht wie ein unüber windlicher Berg vor mir. “

Kasuistik ”An manchen Tagen geh ich nicht mehr ins Büro. Selbst die Hausarbeit geht

Kasuistik ”An manchen Tagen geh ich nicht mehr ins Büro. Selbst die Hausarbeit geht nicht mehr, die banalen Kleinigkeiten für das Kochen einer Mahlzeit wollen mir nicht mehr einfallen. Dann liege ich im abgedunkelten Zimmer in einer Ecke und brüte über mein Leben, während die Zeit qualvoll langsam verrinnt. Wieviel habe ich schon versäumt, wieviel bin ich den anderen schuldig geblieben? Und mit jedem Augenblick sammelt sich neues Versäumnis an. “

Kasuistik „Aber auch aus dem Fenster sehen und den Möwen zusehen bereitet mir Qualen.

Kasuistik „Aber auch aus dem Fenster sehen und den Möwen zusehen bereitet mir Qualen. Man ist getrennt von der Umwelt wie durch eine Glasscheibe, wie wenn ich nicht mehr von dieser Welt wäre. Manchmal habe ich das Gefühl, als stürze alles in mir drinnen zusammen, und ich bekomme eine entsetzliche Angst. Dann wieder ist es ganz tot in mir, ich kann mich nicht freuen, nicht traurig sein. Dann kann mir auch der eigene Körper ganz fremd werden, ich spüre nichts mehr und habe Angst, mir auch nur die Hände zu waschen. Ich weiß nicht mehr, wie das noch weitergehen soll, ich habe schon oft gedacht, es wäre besser, mir das Leben zu nehmen. ”

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Vorherrschende psychiatrische Konzeption: Depression als affektive Erkrankung “Somatisierung”: nur sekundäre körperliche

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Vorherrschende psychiatrische Konzeption: Depression als affektive Erkrankung “Somatisierung”: nur sekundäre körperliche und vegetative Störungen („Vitalstörungen“) Biologisches Paradigma: Hirnstoffwechselstörung (“Serotonin Mangel”) Kognitive Verhaltenstherapie als bevorzugte Psychotherapie In jedem Fall: Depression als „innere“, mentale, individuelle Erkrankung, im Patienten bzw. in seinem Gehirn lokalisiert

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Allerdings: WHO Studie (1997): In 45 95% der Fälle primär somatische

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Allerdings: WHO Studie (1997): In 45 95% der Fälle primär somatische Beschwerden Leib als Ausdrucksfeld interpersoneller Konflikte „Somatisierte Depressionen“ entsprechen aus transkultureller Sicht dem Kernsyndrom der Störung.

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Körper Psyche Dualismus der westlichen Psychopathologie Paradigma der Psyche als Innenraum

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Körper Psyche Dualismus der westlichen Psychopathologie Paradigma der Psyche als Innenraum « Konzeptionen psychischer Krankheit als leibliches, zwischenleibliches und „atmosphärisches“ Geschehen: Japanische Psychopathologie: Störung des „Ki“ als intersubjektiver Atmosphäre (Ki = Luft, Atem, Stimmung, Atmosphäre, „Zwischen“) Bin Kimura: „Zwischen Mensch und Mensch“ (1995) (Leib )phänomenologische Psychopathologie

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Leibphänomenologische Psychopathologie M. Merleau Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) Hermann Schmitz:

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Leibphänomenologische Psychopathologie M. Merleau Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1966) Hermann Schmitz: Der Leib (1965) Leib als der primäre Ort des Selbsterlebens, des Befindens und der Gestimmtheit als Medium des Elementarkontakts mit der Umwelt, des primären Zur Welt Seins“ (Merleau Ponty) Zwischenleiblichkeit (Merleau Ponty) Interaffektivität

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Psychische Störungen als Abwandlungen des gelebten Leibes, des gelebten Raums und

Depression, Leiblichkeit, Zwischenleiblichkeit Psychische Störungen als Abwandlungen des gelebten Leibes, des gelebten Raums und der sozialen Beziehungen des Patienten “Der Patient ist krank; das heißt, seine Welt ist krank“ (van den Berg 1972) Eine psychische Erkrankung ist kein Zustand im Kopf, sondern eine veränderte Weise, in der Welt zu sein. Depression als leiblich zwischenleibliche Erkrankung

Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität Die Introjektion der Gefühle in eine innere „Psyche“ ist ein Erbe

Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität Die Introjektion der Gefühle in eine innere „Psyche“ ist ein Erbe des Platonischen und später des Cartesianischen Dualismus und dessen Erfindung der Seele. Tatsächlich leben wir nicht in einer rein physikalischen Welt; der erfahrene Raum um uns herum ist immer erfüllt von affektiven Qualitäten.

Affektiver Raum oder Stimmungsraum Atmosphären, Stimmungen und Gefühle stellen übergreifende Erlebnisformen dar, in denen

Affektiver Raum oder Stimmungsraum Atmosphären, Stimmungen und Gefühle stellen übergreifende Erlebnisformen dar, in denen affektive Qualitäten einer jeweiligen Situation in leiblicher Resonanz erfahren werden. Es gibt kein Gefühl ohne Leibempfindungen, leibliche Resonanz und Affektion. Leib als „Resonanzkörper“ des affektiven Raums

Affektiver Raum oder Stimmungsraum Kinästhesie, Bewegungstendenz Gefühle als dynamische, „motivierende“ Kräfte Gefühle sind verkörperte

Affektiver Raum oder Stimmungsraum Kinästhesie, Bewegungstendenz Gefühle als dynamische, „motivierende“ Kräfte Gefühle sind verkörperte Motivationen zu handeln. Gefühlsausdruck: zwischenleibliche Resonanz = Grundlage für Empathie

Stimmungsraum: Primäre Intersubjektivität Angeborene Fähigkeit zur Ausdrucks resonanz (Meltzoff & Moore 1989)

Stimmungsraum: Primäre Intersubjektivität Angeborene Fähigkeit zur Ausdrucks resonanz (Meltzoff & Moore 1989)

Primäre Intersubjektivität • Proto Konversationen (Trevarthen 1986) • Musikalische Qualitäten („crescendo“, „decrescendo“, fließend, weich,

Primäre Intersubjektivität • Proto Konversationen (Trevarthen 1986) • Musikalische Qualitäten („crescendo“, „decrescendo“, fließend, weich, explosiv etc. ) • Affektabstimmung, Interaffektivität • Primäre Empathie (ohne „Theory of Mind“!)

Phänomenologie der Stimmungen sind globale, elementar bewertende (z. B. angenehme oder unangenehme) affektive Zustände,

Phänomenologie der Stimmungen sind globale, elementar bewertende (z. B. angenehme oder unangenehme) affektive Zustände, die das Erleben von Selbst und Welt in bestimmter Weise tönen und entsprechende Ver haltensweisen nahelegen. Heiterkeit, Schwermut, Missmut (Dysphorie), Langeweile, Sehnsucht, Wehmut

Phänomenologie der Stimmungen sind atmosphärischer Natur, sie durch dringen die Umgebung und verleihen der

Phänomenologie der Stimmungen sind atmosphärischer Natur, sie durch dringen die Umgebung und verleihen der gesamten Situation entsprechende expressive Qualitäten ( „hell“, „sonnig“, „heiter“, „düster“, „umwölkt“, „dunkel“, etc. ). gehobene oder gedrückte Stimmungen Stimmung als „Einstimmung“ von Leib, Selbst und Umwelt

Phänomenologie der Stimmungen „Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selber kein

Phänomenologie der Stimmungen „Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selber kein Zustand drinnen, der auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt … sondern steigt als Weise des In der Welt Seins aus diesem selbst auf. “ „Die Stimmung hat je schon das In der Welt Sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf … allererst möglich. “ (Heidegger 1927)

Phänomenologie der Stimmungen Existentielle Gefühle“ (Ratcliffe 2008): Gefühle von Weite oder Beengung, von Freiheit

Phänomenologie der Stimmungen Existentielle Gefühle“ (Ratcliffe 2008): Gefühle von Weite oder Beengung, von Freiheit oder Gefangensein, von Verletzlichkeit oder Schutz, Vertrautheit oder Entfremdung, Realität oder Irrealität, Lebendigkeit oder Abgestorbenheit. Gefühle sind verkörperte Motivationen zu handeln. Interaffektivität der Existenzialgefühle

Klassifikation der Stimmungen gehoben gedrückt Lust Unlust Aktivierung Desaktivierung

Klassifikation der Stimmungen gehoben gedrückt Lust Unlust Aktivierung Desaktivierung

cholerisch Agitiertheit sanguinisch Ausgelassenheit Verzweiflung Euphorie Ängstlichkeit Anspannung Gereiztheit Aktivierung Lustigkeit Leichtigkeit Heiterkeit Missmut

cholerisch Agitiertheit sanguinisch Ausgelassenheit Verzweiflung Euphorie Ängstlichkeit Anspannung Gereiztheit Aktivierung Lustigkeit Leichtigkeit Heiterkeit Missmut Seligkeit Unlust Unglück Lust Glück Traurigkeit Wehmut Schwere Schwermut Desaktivierung Entspannung Gelassenheit Gleichmut Niedergeschlagenheit melancholisch Zufriedenheit Langeweile Lethargie Nachdenklichkeit Phlegmatisch

Embodiment Forschung • eingesunkene (vs. aufrechte) Position → mehr negative Erinnerungen (Riskind 1984)

Embodiment Forschung • eingesunkene (vs. aufrechte) Position → mehr negative Erinnerungen (Riskind 1984)

Embodiment Forschung • Depressives (versus beschwingtes) Gangmuster → mehr negative Erinnerungen (Michalak 2017)

Embodiment Forschung • Depressives (versus beschwingtes) Gangmuster → mehr negative Erinnerungen (Michalak 2017)

Embodiment Forschung: Charlie Brown

Embodiment Forschung: Charlie Brown

Zusammenfassung: Affektiver oder Gefühlsraum Leiblichkeit und Räumlichkeit der Gefühle und Stimmungen Interaffektivität der Gefühle

Zusammenfassung: Affektiver oder Gefühlsraum Leiblichkeit und Räumlichkeit der Gefühle und Stimmungen Interaffektivität der Gefühle und Existenzialgefühle Entspricht Ergebnissen der vergleichenden Kulturanthropologie

Depression als (zwischen )leibliche Krankheit (a) Leib und leiblicher Raum Leibliche Konstriktion, Oppression (Panzer

Depression als (zwischen )leibliche Krankheit (a) Leib und leiblicher Raum Leibliche Konstriktion, Oppression (Panzer oder Reifengefühl, Globus, Kopfdruck), vitale Angst Antriebsverlust, fehlende expansive Richtungen Erschwerter Austausch von Leibraum und Umraum „Korporifizierung“ des Leibes

Leib und Depression (b) Sensomotorischer Raum Wahrnehmung: Verlust des sympathetischen Empfindens Psychomotorische Hemmung Verlust

Leib und Depression (b) Sensomotorischer Raum Wahrnehmung: Verlust des sympathetischen Empfindens Psychomotorische Hemmung Verlust des leiblichen Möglichkeitsraums (leibliche Protentionen), des leiblichen Sich vorweg Seins Dinge sind nur noch „vorhanden“, nicht „zuhanden“

Depressive Hemmung Ambivalenz „Ich sage mir: Du musst etwas tun; aber während ich es

Depressive Hemmung Ambivalenz „Ich sage mir: Du musst etwas tun; aber während ich es sage, setze ich mich trotzdem auf den nächsten Stuhl und starre vor mich hin. Sowie ich allein war, machte ich es so, und dabei spürte ich, wie dies Hin und Her zwischen Wollen und Nicht Wollen an meinen Nerven riss. “ (Tellenbach 1983) Ohnmacht des Willens als Quelle von Schuldgefühlen

Depression als “Verstimmung” Verlust der sympathetischen Partizipation Resonanzstörung „Gefühl der Gefühllosigkeit“ Unterschied zur Trauer

Depression als “Verstimmung” Verlust der sympathetischen Partizipation Resonanzstörung „Gefühl der Gefühllosigkeit“ Unterschied zur Trauer Verlust der zwischenleiblichen Resonanz

Depression als “Verstimmung” „Man ist oder fühlt sich wie einzelner kleiner Stein verloren in

Depression als “Verstimmung” „Man ist oder fühlt sich wie einzelner kleiner Stein verloren in endloses Grau zerfließender Landschaft. . . Wird man gesund, so bleibt aus diesem Erlebnis des Isoliertseins das Bewusstsein, wie wenig wir aus uns selbst zu leben vermögen, wie sehr wir auf Zusammenhänge angewiesen sind. . . Das Gefühl der Kleinheit, Unsicherheit und Verlorenheit kann so groß werden, dass man etwas wie ein Weltraumgefühl hat, in dem man selbst ein preisgegebener Punkt ist“. (Tellenbach 1956)

Depression als “Verstimmung” Gefühl der Gefühllosigkeit „… a loss of feeling, a numbness, which

Depression als “Verstimmung” Gefühl der Gefühllosigkeit „… a loss of feeling, a numbness, which had infected all my human relations. I didn’t care about love; about my work; about family; about friends …” (Solomon 2001).

Depression als “Verstimmung” Trotz des Verlusts der Resonanz erhaltene Emotionen: Gefühle der Schuld, Angst,

Depression als “Verstimmung” Trotz des Verlusts der Resonanz erhaltene Emotionen: Gefühle der Schuld, Angst, Unruhe oder Verzweiflung Leibliche Schuldgefühle: „Es kommt von unten, vom Bauch her, wie eine schreckliche Beklemmung, die nach oben aufsteigt; dann entsteht ein Druck in der Brust, wie ein Verbrechen, das ich begangen habe; ich spüre es wie eine Wunde hier auf der Brust, das ist mein zermartertes Ge¬wissen. . . Das saugt dann die Erinnerung an, und ich muss wieder an alles denken, was ich versäumt und falsch gemacht habe. . . “ (Fuchs 2000).

Depression als Entfremdung Derealisation / Depersonalisation Entfremdungsdepression „Um mich herum ist nur Leere; sie

Depression als Entfremdung Derealisation / Depersonalisation Entfremdungsdepression „Um mich herum ist nur Leere; sie füllt den Raum zwischen mir und meinem Mann; anstatt mich zu ihm hinzuführen, hält sie mich von ihm fern. Ich werde von der ganzen Welt ferngehalten, da ist eine Kluft zwischen der Welt und mir“ (v. Gebsattel 1954).

Depression als Entfremdung Derealisation / Depersonalisation Entfremdungsdepression „Um mich herum ist nur Leere; sie

Depression als Entfremdung Derealisation / Depersonalisation Entfremdungsdepression „Um mich herum ist nur Leere; sie füllt den Raum zwischen mir und meinem Mann; anstatt mich zu ihm hinzuführen, hält sie mich von ihm fern. Ich werde von der ganzen Welt ferngehalten, da ist eine Kluft zwischen der Welt und mir“ (v. Gebsattel 1954).

Wahnhafte Depression a) Schuldwahn, Versündigungswahn Verworfensein, Ausgestoßensein Verlust der Selbstdistanzierungsfähigkeit b) Verarmungswahn c) Hypochondrischer

Wahnhafte Depression a) Schuldwahn, Versündigungswahn Verworfensein, Ausgestoßensein Verlust der Selbstdistanzierungsfähigkeit b) Verarmungswahn c) Hypochondrischer Wahn d) Nihilistischer Wahn

Schuldwahn Kurz nach seiner Pensionierung erkrankte ein 64 Jahre alter Patient an einer schweren

Schuldwahn Kurz nach seiner Pensionierung erkrankte ein 64 Jahre alter Patient an einer schweren Depression. Aus einfachen Verhältnissen abstammend hatte er sich zu einem leitenden Angestellten eines großen Unternehmens hochgearbeitet. Er be richtete, dass er innerhalb seiner 45 jährigen Berufstätig keit lediglich 10 Tage krank geschrieben war. Seine Depression war charakterisiert durch ein Gefühl des Verfalls. Seine ganze Kraft sei verschwunden und er habe keine Kontrolle mehr über seine Arme und Beine. Er habe keine Rücksicht auf seine Gesundheit genommen, sich nicht um seine Familie gekümmert und jetzt erhalte er seine wohlverdiente Strafe.

Schuldwahn Er beschuldigte sich selbst, für das Scheitern einer wichtigen geschäftlichen Transaktion seines Unternehmens

Schuldwahn Er beschuldigte sich selbst, für das Scheitern einer wichtigen geschäftlichen Transaktion seines Unternehmens vor zwei Jahren verantwortlich zu sein, was unweigerlich zum Bankrott der Firma führen werde. „Ich bin nur noch eine Last für die Familie, ein Klotz am Bein. . . für mich ist das Leben vorbei. “ Schließlich sah er bereits den Todesschweiß auf seiner Stirn und meinte, man könne schon die Leichenflecke auf seinem Gesicht sehen. Man solle ihn in die Leichenhalle im Keller bringen und ihn dort zurücklassen (Fuchs 2000).

Nihilistischer Wahn (Cotard Syndrom) (65 jährige Patientin) Ihr Leib, Magen und Darm seien so

Nihilistischer Wahn (Cotard Syndrom) (65 jährige Patientin) Ihr Leib, Magen und Darm seien so zusammengezogen, dass kein Hohlraum übrigbleibe. Der ganze Körper sei ausgetrocknet, und es bewege sich nichts mehr; sie empfinde weder Schmerzen noch Hitze oder Kälte. Sie könne nicht einmal mehr sterben, da in ihr alles schon ausgetrocknet und tot sei. Sie könne sich auch nichts mehr vorstellen, nicht ihren Mann, nicht ihre Bekannten, überhaupt nichts mehr von der äußeren Welt (Fuchs 2000).

Nihilistischer Wahn (Cotard Syndrom) „Jemand, der meiner Frau glich, ging neben mir, und meine

Nihilistischer Wahn (Cotard Syndrom) „Jemand, der meiner Frau glich, ging neben mir, und meine Freunde besuchten mich. . Alles ist genauso, wie es sein würde, wenn es normal wäre. Die Gestalt, die meine Frau darstellte, erinnerte mich ständig daran, wie ich ihr gegenüber versagt, sie lächerlich gemacht. . . und ihr vergällt hatte, was ihr Freude machte. Was wie das normale Leben aus sieht, das ist es nicht. Ich befand mich auf der anderen Seite. “ (Kuiper 1991)

Nihilistischer Wahn „Und nun wurde mir auch klar, wie das mit der Todes ursache

Nihilistischer Wahn „Und nun wurde mir auch klar, wie das mit der Todes ursache gewesen war und wie sich das Begräbnis abgespielt hatte. Ich war gestorben, aber Gott hatte dieses Geschehen meinem Bewusstsein entzogen, so dass ich nicht wusste, wie ich diese Grenze überschritten hatte. Eine härtere Strafe kann man sich kaum vor stellen. Ohne zu wissen, dass man gestorben ist, befindet man sich in einer Hölle, die bis in alle Einzelheiten der Welt gleicht, in der man gelebt hat, und so lässt Gott einen sehen und fühlen, dass man nichts aus seinem Leben gemacht hat. “ (Kuiper 1991)

Zusammenfassung: Depression als (zwischen )leibliche Erkrankung

Zusammenfassung: Depression als (zwischen )leibliche Erkrankung

Der Kampf gegen die Depression

Der Kampf gegen die Depression

Phänomenologie der Angst

Phänomenologie der Angst

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Patientin berichtet, seit zwei Jahren zunehmend

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Patientin berichtet, seit zwei Jahren zunehmend verschiedene körperli che Missempfindungen zu spüren: ein Gefühl unangenehmer Leere im Kopf, so als müsste sie einen Kopfstand machen, um ihn wieder aufzufül len; die Arme und Beine fühlten sich taub und fremd an. Oft spüre sie ihr Herz beunruhigend klop fen; überhaupt habe sie bemerkt, dass das Herz schneller schlug als früher. Sie fühle es fortwährend und lege oft die Hand auf die Brust, um es zu kon trollieren und sozusagen zu stützen. Sie gehe deshalb nur noch langsam, ra scheres Laufen könne bereits eine Herzatta cke auslösen.

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Außerdem sei etwas mit ihrer Wahrnehmung nicht

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Außerdem sei etwas mit ihrer Wahrnehmung nicht in Ordnung. Zu Beginn habe sie eines Abends plötzlich den Eindruck gehabt, der Fernseher käme auf sie zu; später seien die Gegenstände wiederholt ganz weit weggerückt, ein Raum immer länger und die darin befindlichen Menschen immer klei ner ge worden. Die Patien tin konnte seit einigen Monaten kaum noch aus dem Haus gehen, denn auf den Straßen hatte sie immer mehr das Gefühl, daß die Fassa den sich vorneüberbeug ten und die Häuser kurz davor waren, über ihr einzu stürzen.

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Straßen und Plätze erschienen weit und

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Straßen und Plätze erschienen weit und leer, viel weiter als es der Größe eines Platzes ent sprach; sie war sicher, daß sie den Platz nicht würde überqueren können, ohne in der ungeheuren Leere den Halt zu verlieren und ohnmächtig zu Boder zu stürzen. Zugleich schienen die Men schen in einer unwirklichen Entfernung. Sie fühlte sich auf schwer beschreib bare Weise al lein und zugleich geängstigt, und die Furcht zwang sie, rasch nach Hause zu rückzukehren.

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Beschwerden haben nicht nur zu einer

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. Die Beschwerden haben nicht nur zu einer immer weitergehenden Ein schrän kung ihres Bewegungsradius und Lebensraums geführt, sondern auch zu einer Eskala tion von Konflikten in ihrer Partnerbeziehung, schließlich zu einer Trennung von ihrem Ehemann. Sie wohnt derzeit bei ihrer Mutter. Dort, in ihrem früheren Elternhaus, fühlt sie sicherer, allerdings über kommt sie oft ein unbestimmtes Grauen. Es gibt im Haus das Sterbezim mer ihres Vaters, in dem sie ihn mit 14 Jahren tot im Sessel aufgefunden hatte.

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. In den Räumen der elterlichen Wohnung wohnt

Beispiel: Leib Raum Zeit Stimmung Frau F. In den Räumen der elterlichen Wohnung wohnt noch immer das Ge fühl der Kindheit. Es ist in der Atmosphäre des Zimmers gegenwärtig, es strahlt aus von den Möbeln und Vor hängen. Die Patientin fühlt sich darin klein und hilf los. Aber sie kann auch nicht mehr auf die Straße. Dann läuft sie panisch in der Woh nung auf und ab, weil sie den Zustand nicht mehr aushalten kann.

Einleitung Angst als Hemmung eines Fluchtimpulses angesichts einer Bedrohung Leibliche Einengung und Abschnürung vom

Einleitung Angst als Hemmung eines Fluchtimpulses angesichts einer Bedrohung Leibliche Einengung und Abschnürung vom Umraum Angst als ein leibliches Existenzial, d. h. als Grunderfah rung des leiblich verfassten und situierten Subjekts, die sich gleichermaßen im Leib und Bewegungsraum, im sozialen Raum und im symbolischen Raum der Existenzbewegung manifestiert.

Überblick (1) Leibliche Grundstruktur der Angst (2) Anthropologische Voraussetzungen (3) Einzelne Formen des Angsterlebens

Überblick (1) Leibliche Grundstruktur der Angst (2) Anthropologische Voraussetzungen (3) Einzelne Formen des Angsterlebens

(1) Leibliche Grundstruktur der Angst

(1) Leibliche Grundstruktur der Angst

(1) Grundstruktur der Angst - verhindertes ‚weg!‘ (H. Schmitz) - lat. angor = Beklemmung

(1) Grundstruktur der Angst - verhindertes ‚weg!‘ (H. Schmitz) - lat. angor = Beklemmung - Antagonismus von Konstriktion und Fluchtimpuls - Charakteristische Spirale von Lähmung, Ohnmacht und Angst - Abspaltung des Leibraums vom Umraum, Fehlen der vermittelnden Richtungen, die aus der Enge in die Weite führen

(1) Grundstruktur der Angst - Verlust der „Einrichtung“ im Raum: Angst und Schwindel -

(1) Grundstruktur der Angst - Verlust der „Einrichtung“ im Raum: Angst und Schwindel - Bedrohlichkeit der Umwelt – Subjektzentrismus - unheimliche Atmosphäre - Selbstzentrierung („tua res agitur!“) - Leiblicher Konflikt des ‚gehemmten Weg!‘ als Konflikt zwischen der drohenden Negation und der sich dagegen stemmenden Affirmation des Selbst - elementare Gegenwart („ich hier jetzt“)

(1) Grundstruktur der Angst - Verlust der Distanz und Orientierung (vor allem panische Angst)

(1) Grundstruktur der Angst - Verlust der Distanz und Orientierung (vor allem panische Angst) - eingeengter Zukunftsbezug - negativer Erwartungsaffekt - Verlust der Objektivität, des „Überstiegs“ im Verhältnis zur Situation, der Relativierung

Angst und Furcht - Angst als „Widerfahrnis“ (B. Waldenfels) - Kierkegaard, Heidegger: innerweltliche Furcht

Angst und Furcht - Angst als „Widerfahrnis“ (B. Waldenfels) - Kierkegaard, Heidegger: innerweltliche Furcht versus existenzielle Angst - „Dass das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst“ (Heidegger 1927). - Oder eher Übergang zwischen den Polen von reiner Angst und objektgerichteter Furcht

Angst und Furcht - Auch die scheinbar objektlose neurotische Angst stellt eine Reaktion auf

Angst und Furcht - Auch die scheinbar objektlose neurotische Angst stellt eine Reaktion auf eine verdrängte Bedrohung zentraler Bedürfnisse oder auf einen unbewussten Triebkonflikt dar. - Klinisch: häufiger Wechsel zwischen Phobien und frei flotierenden Ängsten (Lang 1996) - Angst sucht „zur Furcht zu werden“. - Phobien als verwandelte Formen tieferer Ängste

Angst und Furcht - Angst und Furcht als Reaktionen auf die Bedrohung des Selbst

Angst und Furcht - Angst und Furcht als Reaktionen auf die Bedrohung des Selbst in einem essenziellen Wert, sei dieser vitaler, sozialer oder existenzieller Natur. - Phobien als verwandelte Formen tieferer Ängste - Spezifisch menschliche Angst vor dem Ver lust so zialer Zugehörigkeit, Angst um das Gelingen des Lebens und Angst angesichts der Sterb lichkeit - Angst wird tendenziell zur Furcht, und umgekehrt verweist die Furcht auf existenzielle Angst

(2) Anthropologische Grundlagen

(2) Anthropologische Grundlagen

(2) Anthropologische Grundlagen - sympathikotone vegetative Erregung – biologische Funktion der Angst als Warn

(2) Anthropologische Grundlagen - sympathikotone vegetative Erregung – biologische Funktion der Angst als Warn und Mobilisierungssystem - soziale und existenzielle Gefährdungen - „physiologische Frühgeburt“ (Portmann 1944) - Freud sah die primäre Wurzel der neurotischen Angstbereitschaft in der „lang hingezogenen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des kleinen Menschenkindes“ - Teil des Bindungssystems (Bowlby 1975)

(2) Anthropologische Grundlagen - Bedrohungen des Selbstwerts oder des Status in der Gruppe -

(2) Anthropologische Grundlagen - Bedrohungen des Selbstwerts oder des Status in der Gruppe - Schuld , Gewissensangst, Angst vor Ausschluss („Disgregationsangst“, Bilz 1971) - Angst als interne Instanz der Selbstkontrolle (Freud, Unbehagen in der Kultur) - „Gewissen ist in seinem Ursprung ‚soziale Angst‘ und nichts anderes“ (Freud 1926)

Anthropologische Bedingungen der Angst - Angst aufgrund der Fähigkeit zur Imagination: Vorwegnahme möglicher Gefährdungen

Anthropologische Bedingungen der Angst - Angst aufgrund der Fähigkeit zur Imagination: Vorwegnahme möglicher Gefährdungen - Angst vor der Angst bei Panikstörungen - Sorgestruktur des Daseins (Heidegger) - Todesbewusstsein und existenzielle Ängste Arnold Böcklin: Selbstbildnis mit fiedelndem Tod

(2) Anthropologische Grundlagen - Angst als Preis für die Offenheit des „nicht festgestellten Tiers“

(2) Anthropologische Grundlagen - Angst als Preis für die Offenheit des „nicht festgestellten Tiers“ (Nietzsche), also für den Spielraum der Freiheit (Kierkegaard: Angst als „Schwindel der Freiheit“) - Leben als Aufgabe höhere existenzielle Gefährdung, Möglichkeit des Scheiterns

(2) Anthropologische Grundlagen besondere Verletzlichkeit und Zukunftsoffenheit der menschlichen Existenz andererseits Möglichkeiten der Angstbewältigung,

(2) Anthropologische Grundlagen besondere Verletzlichkeit und Zukunftsoffenheit der menschlichen Existenz andererseits Möglichkeiten der Angstbewältigung, die dem Tier nicht gegeben sind: - Kulturentwickl ung - Individuelle Angstbewältigung (z. B. Exposition in der Psychotherapie) - Radikale Akzeptanz des Unvermeidlichen, Aufgabe des Fluchtimpulses

(3) Einzelne Formen des Angsterlebens

(3) Einzelne Formen des Angsterlebens

Formen des Angsterlebens (1) Vitale Angst (2) Raumängste: Agoraphobie, Klaustrophobie, Akrophobie Dynamisierung des umgebenden

Formen des Angsterlebens (1) Vitale Angst (2) Raumängste: Agoraphobie, Klaustrophobie, Akrophobie Dynamisierung des umgebenden Raums Psychogenese der Raumängste: Öffentlichkeit Gefürchtete Lebensmöglichkeit Trennungssituationen oder Orientierungskrisen Einengende Lebenssituation (Klaustrophobie)

Formen des Angsterlebens (3) Soziale Ängste - Gefährdung des Beziehungsraums der Person: drohende Trennung,

Formen des Angsterlebens (3) Soziale Ängste - Gefährdung des Beziehungsraums der Person: drohende Trennung, Verlassenheit, Ausstoßung - Disgregationsangst des Frühmenschen - Angst vor Zurückweisung, Liebesentzug, Entwertung, Beschä mung, Bestrafung - Schuldgefühl als internalisierte Strafangst - Angst vor Versagen, Herabsetzung, Statusverlust, - Angst vor Hingabe, Unfreiheit oder Selbstverlust in persön lichen Beziehungen

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Angst vor Freiheit - Angst vor Selbstwerdung

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Angst vor Freiheit - Angst vor Selbstwerdung (Riemann 1961), vor grundloser (nicht gerechtfertigter) Selbstwahl - Angst vor Festlegung und Bindung

Angst vor Festlegung und Bindung „Ein Ausweg wird gesucht: Im Verwirklichen sollen keine Möglichkeiten

Angst vor Festlegung und Bindung „Ein Ausweg wird gesucht: Im Verwirklichen sollen keine Möglichkeiten verloren gehen. Daher geschieht die Verwirk lichung mit dem inneren Vorbehalt, nichts endgültig zu ergreifen, vielmehr in der Realisierung die Realität gleichsam zu verleugnen. Es soll nur ein Versuch sein, den man rück gängig machen kann. Das Leben wird Versuch und Wechsel. Selbstidentifizierung im Wagnis des ‚für immer und ewig’ wird verleugnet. Denn jede Begrenzung wird als Gefängnis erfah ren. (…) Der Wille zur Bewahrung der unendlichen Möglich keit verwirft die Bindung in der Wirklichkeit. “ (Jaspers 1956)

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Angst angesichts ungelebten Lebens (Midlife Crisis, „Torschlusspanik“)

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Angst angesichts ungelebten Lebens (Midlife Crisis, „Torschlusspanik“) Beispiel: P. Mercier, Nachtzug nach Lissabon (2005) „Ich wachte auf und wusste plötzlich: Auf dem Flügel so spielen zu können, wie er es verdient – das liegt nicht mehr in der Reichweite meines Lebens. . Und nun habe ich solche Angst …“

Angst angesichts ungelebten Lebens „Der Flügel – seit heute Nacht erinnert er mich daran,

Angst angesichts ungelebten Lebens „Der Flügel – seit heute Nacht erinnert er mich daran, dass es Dinge gibt, die ich nicht mehr rechtzeitig werde tun können … Es geht nicht um unwichtige kleine Freuden und flüchtige Genüsse … Es geht um Dinge, die man zu tun und zu erleben wünscht, weil erst sie das eigene, dieses ganz besondere Leben ganz machen würden und weil ohne sie das Leben unvollständig bliebe, ein Torso und bloßes Fragment. “

Angst angesichts ungelebten Lebens Es ist die Antizipation, „. . . dass das Leben

Angst angesichts ungelebten Lebens Es ist die Antizipation, „. . . dass das Leben unabgeschlos sen bleiben werde, bruchstückhaft und ohne die erhoffte Stimmigkeit. Dieses Wissen, das sei das Schlimme – die Angst vor dem Tod eben. “ „Und so könnte man die Angst vor dem Tod beschreiben als die Angst, nicht der werden zu können, auf den hin man sich angelegt hat. “

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Daseins oder Weltangst „Wenn … ich bedenke,

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Daseins oder Weltangst „Wenn … ich bedenke, dass das ganze Weltall stumm und der Mensch ohne Einsicht sich selbst überlassen ist wie ein Verirrter in diesem Winkel des Weltalls, … dann überkommt mich ein Grauen, wie es einen Menschen überkommen müsste, den man im Schlaf auf einer wüsten und schreckvollen Insel ausgesetzt und der erwachend weder weiß wo er ist, noch wie er entkom men kann. “ Pascal, Pensées (1670)

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Todesangst Angst vor der Auflösung oder dem

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Todesangst Angst vor der Auflösung oder dem Verlöschen des Selbst, vor dem Verlust aller Beziehungen und Gestalten des Lebens, vor dem antizipierten „Ende aller Möglichkeit“ (E. Levinas 1987). Heidegger: Vorauslaufende Angst erschließt die grundlegende Struktur des Daseins als „Sein zum Tode“ und damit gerade die Möglichkeit des eigenen Selbstseins

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Psychotische Angst vor Selbstuntergang (z. B. LSD

Formen des Angsterlebens (4) Existenzielle Ängste - Psychotische Angst vor Selbstuntergang (z. B. LSD Rausch, Schizophrenie) Grundsätzlich: Gefährdung der Existenz durch Freiheit, Offenheit, Ungesichertheit, Endlichkeit Der leibliche Konflikt der Angst, das „gehinderte Weg!“ kehrt auf der existenziellen Ebene wieder.

Existenzielle Angst „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst

Existenzielle Angst „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. “ – „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie. Kafka, Kleine Fabel

Existenzielle Angst - existenzielle Agoraphobie oder Weiteangst - „Satz vom unzureichenden Grund“, nämlich dafür,

Existenzielle Angst - existenzielle Agoraphobie oder Weiteangst - „Satz vom unzureichenden Grund“, nämlich dafür, eine Möglichkeit statt einer anderen zu ergreifen - Flucht nach vorn - zunehmende Festlegung mündet in eine existenzielle Klaustrophobie: Lebensangst wird zur Todesangst - Schluss: unvermittelter Sprung in eine andere Perspektive (Tod „von außen“, als radikal Fremdes) - Transzendenz nicht als Heil, sondern als Vernichtung

Zusammenfassung Angst als Widerstreit zwischen leiblicher Konstriktion und Fluchtimpuls Erschütterung und Bedrohung des Selbst

Zusammenfassung Angst als Widerstreit zwischen leiblicher Konstriktion und Fluchtimpuls Erschütterung und Bedrohung des Selbst besondere Angstbereitschaft des Menschen Angst als „leibliches Existenzial“

Überwindung der Angst 1. Angstursachen ergründen 2. Angst zulassen (radikale Akzeptanz) 3. Exposition 4.

Überwindung der Angst 1. Angstursachen ergründen 2. Angst zulassen (radikale Akzeptanz) 3. Exposition 4. Entspannungsverfahren

Überwindung der Angst Kontraphobische Angstabwehr - Extrembergsteigen, Free Climbing, Bungee oder Fallschirmspringen, U Bahn

Überwindung der Angst Kontraphobische Angstabwehr - Extrembergsteigen, Free Climbing, Bungee oder Fallschirmspringen, U Bahn Surfen oder Motorsport, etc. „Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, dass mich einer anspringt, wenn es finster ist. Da bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst in meinem Auto, weil ich das beherrsche. “ (Niki Lauda) - Angstlust: Nachrichten, Horrorfilme

Scham und Soziale Phobie

Scham und Soziale Phobie

Kasuistik I Ein 48 jähriger Chemiker leidet unter starken Ängsten zu zittern. Erstmals zeigte

Kasuistik I Ein 48 jähriger Chemiker leidet unter starken Ängsten zu zittern. Erstmals zeigte sich die Problematik, als er noch studierte. Er habe damals eine große Unruhe empfunden, wenn andere Menschen ihm bei der Arbeit (insbesondere bei chemischen Experimenten) zugesehen hätten. In der Regel versuchte er, solchen Situationen aus dem Wege zu gehen, indem er erst sehr spät ins Labor gekommen sei und dann im Wesent lichen nachts gearbeitet habe.

Kasuistik Seine größte Befürchtung sei immer gewesen, dass jemand sehen könnte, wie er zittere

Kasuistik Seine größte Befürchtung sei immer gewesen, dass jemand sehen könnte, wie er zittere und „vor versammel ter Mannschaft“ die anderen Anwesenden auf sein Zittern aufmerksam machen könnte. Er denke, dass er dann „endgültig unten durch“ wäre. Die Ängste hätten sich über mittlerweile zwanzig Berufsjahre erhalten, er habe sich eigentlich damit arrangiert. Große Angst mache ihm jedoch die Tatsache, dass die Problematik zunehmend auch sein Privatleben beeinflusse: Er habe festgestellt, dass er in den

Kasuistik Supermarkt immer Bargeld mitnehme, da er fürchte, bei der Unterschrift auf dem Kreditkartenbeleg

Kasuistik Supermarkt immer Bargeld mitnehme, da er fürchte, bei der Unterschrift auf dem Kreditkartenbeleg zu zittern. Auch im häuslichen Umfeld gebe es Ängste, beispiels weise anlässlich eines Abends, an dem er mit seiner Frau und Freunden ein Gesellschaftsspielen wollte und dies unter einem Vorwand aus Angst zu zittern abgebrochen habe. Seit diesem Abend fühle er sich „total in der Defensive“ und befürchte, dass seine Ängste ihm „das ganze Leben versauen“.

Kasuistik II Eine 27 jährige Medizinstudentin berichtet, dass sie bereits seit ihrer Kindheit unter

Kasuistik II Eine 27 jährige Medizinstudentin berichtet, dass sie bereits seit ihrer Kindheit unter ausgeprägten Ängsten leide, wenn sie mit anderen Menschen in Kontakt komme. Besonders ausgeprägt seien die Ängste, wenn es um öffentliches Sprechen gehe (z. B. Referate halten), aber auch andere Situationen – wie z. B. von Kommilitonen angesprochen zu werden oder auch jemanden auf der Straße anzusprechen – empfinde sie als sehr schwierig. Sie befürchte, in solchen Situationen „nichts herauszubekommen“ und somit auf die Interaktionspartner seltsam zu wirken.

Kasuistik II Häufig fürchte sie auch, in solchen Situationen zu erröten. Um nicht in

Kasuistik II Häufig fürchte sie auch, in solchen Situationen zu erröten. Um nicht in diese unangenehmen Situationen zu kommen, habe sich angewöhnt, kaum Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Sie sei sicher, dass ihre Kommilitonen sie für seltsam hielten und leide sehr darunter. In den letzten Monaten habe sie darüber hinaus bemerkt, dass sich ihre Stimmung sehr verschlechtert habe. Sie erlebe ihr gesamtes Leben als sinnlos, auch das Studium mache ihr keine Freude mehr.

Definition der Sozialen Phobie (DSM IV R) A: Eine dauerhafte und übertriebene Angst vor

Definition der Sozialen Phobie (DSM IV R) A: Eine dauerhafte und übertriebene Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituationen, bei denen die Person mit unbekannten Personen konfron tiert ist oder von anderen Personen beurteilt werden könnte. Die Person fürchtet, ein Verhalten zu zeigen, das demütigend oder peinlich sein könnte. B: Die Konfrontation mit der gefürchteten Situation ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion hervor, die das Erscheinungsbild eines situationsgebundenen oder eines situativ vorbereiteten Panikanfalls annehmen kann.

 • Definition of Social Phobia (DSM IV R) Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungs

• Definition of Social Phobia (DSM IV R) Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungs haltung oder das Unbehagen in den gefürchteten sozi alen Situationen beeinträchtigt deutlich die normale Lebensführung, schulische oder berufliche Funktions fähigkeit oder soziale Aktivitäten und Beziehungen.

Scham und soziale Phobie Gemeinsame Merkmale: - Furcht vor einer negativen Bewertung oder Peinlichkeit

Scham und soziale Phobie Gemeinsame Merkmale: - Furcht vor einer negativen Bewertung oder Peinlichkeit - Tendenz, soziale Situationen zu vermeiden - physiologische Symptome wie Herzklopfen, Übelkeit, Zittern, Erröten. Soziale Phobie ist im Wesentlichen Schamangst.

Überblick • Leib und Körper • Der Blick des Anderen • Phänomenologie der Scham

Überblick • Leib und Körper • Der Blick des Anderen • Phänomenologie der Scham • Phänomenologie der Lächerlichkeit • Die körperdysmorphe Störung als Beispiel

Leib Körper Leib (subjektiver Körper) Körper (Leib als Objekt) erscheint in: - Schwere, Erschöpfung,

Leib Körper Leib (subjektiver Körper) Körper (Leib als Objekt) erscheint in: - Schwere, Erschöpfung, Verletzung, Krankheit Ungeschicklichkeit, Plumpheit vor dem Blick der anderen (corps pour autrui, Sartre 1943) “Korporifizierung” des Leibes Polarität und Ambiguität des Leibes (Merleau Ponty)

Der Blick des Anderen Sartre: Ich werde erblickt, d. h. ich werde aus meiner

Der Blick des Anderen Sartre: Ich werde erblickt, d. h. ich werde aus meiner eigenen Zentralität herausgerissen und zu einem Gegenstand innerhalb einer fremden Welt. Der Blick dezentralisiert meine Welt. Auch meinen Körper sehe ich nur in Ausschnitten, zumal mein Gesicht bleibt mir verborgen, immer "im Rücken" meines Blicks. Vermittels dieses blinden Flecks bemächtigt sich nun der Blick des Anderen meines Leibes, erfasst ihn und verwandelt ihn in einen gesehenen Körper plötzliche Erfahrung des “Ich Hier Jetzt"

Der Blick des Anderen objektiviert und "korporifiziert" den Leib. Besonders gilt dies für den

Der Blick des Anderen objektiviert und "korporifiziert" den Leib. Besonders gilt dies für den verdinglichenden Blick Dieses Anhalten der Lebensbewegung und die Umkehr der Erlebnisrichtung ist verbunden mit Reflexion, mit Selbstbewusstheit. Der Spiegel, in dem der eigene Leib als Körper erscheint, ist das Paradigma für die Außenansicht, die als Reflexion verinnerlicht wird.

Phänomenologie der Scham Anlässe: - Exposition und Zurückweisung - Aufdeckung einer verborgenen, verpönten Handlung,

Phänomenologie der Scham Anlässe: - Exposition und Zurückweisung - Aufdeckung einer verborgenen, verpönten Handlung, ungeschützt der Öffentlichkeit preisgegeben sein - “einen Narren aus sich machen”, lächerlich werden - Ungeschicklichkeit, mangelnde Körperbeherrschung - Missgestalt, Deformation des Körpers - Künstlichkeit, Übertreibung

Phänomenologie der Scham Lächerlich und damit Anlass zur Scham ist also das Ungeschickte, Inadäquate,

Phänomenologie der Scham Lächerlich und damit Anlass zur Scham ist also das Ungeschickte, Inadäquate, Künstliche, Imitierte („Nach äffen“), mit einem Wort: die Verfremdung der ursprüng lichen Leiblichkeit, die unversehens die banale und irdische Körperlichkeit gleichsam aus ihr herausfallen lässt. Diskrepanz zwischen unseren Ambitionen und unserer Faktizität Korporifizierung : "Wir lachen jedesmal, wenn eine Person uns wie eine Sache erscheint” (Bergson 1900).

Phänomenologie der Scham Selbstzentralität der Scham “Man steht da wie betäubt inmitten einer Brandung

Phänomenologie der Scham Selbstzentralität der Scham “Man steht da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns hindurchblickt. ” Nietzsche, Morgenröthe

Phänomenologie der Scham Tendenz zur Selbstverhüllung, unsichtbar werden, „in den Boden versinken“ "Scham" von

Phänomenologie der Scham Tendenz zur Selbstverhüllung, unsichtbar werden, „in den Boden versinken“ "Scham" von ahd. scama = "sich bedecken, zudecken" (scema = "Schein, Erscheinung“, neuhochdeutsch Schemen = Schatten, verhüllte Gestalt) Suizid bei beschämendem Ehrverlust: “aus der Welt verschwinden”

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Ein junger Mann von außergewöhnlicher natürlicher Grazie,

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Ein junger Mann von außergewöhnlicher natürlicher Grazie, so berichtet der Erzähler, hätte durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor seinen Augen, seine Unschuld verloren: Nach einem mit dem Erzähler genommenen Bad erblickt sich der Jüngling im Spiegel bei einer Geste, die ihn an eine von ihnen beiden einmal gesehene Plastik erinnert. Er teilt dies dem Erzähler mit, aber der lacht und macht eine spöttische Bemerkung, worauf der junge Mann schamhaft errötet.

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Er wiederholt die Geste daraufhin noch mehrere

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Er wiederholt die Geste daraufhin noch mehrere Male, aber sie missglückt auf komische Weise. Von diesem Tag an ist der junge Mann nicht mehr, was er war: "Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz, um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm zu entdecken. . . "

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Vor dem Blick des Anderen erhält die

Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater” (1809) Vor dem Blick des Anderen erhält die Leiblichkeit also nicht bloß eine zusätzliche Außenseite; der Bruch geht vielmehr durch die Unmittelbarkeit des leiblichen Seins mitten hindurch. Unter dem fremden Blick wird die Leiblichkeit nicht nur zu einer nackten, gesehenen, sondern auch zu einer "gemachten", "gewollten" und künstlichen.

Scham und Selbstbewusstheit Die Scham bedeutet nach Hegel (1817) "die Scheidung des Menschen von

Scham und Selbstbewusstheit Die Scham bedeutet nach Hegel (1817) "die Scheidung des Menschen von seinem natürlichen und sinnlichen Seyn". "In aller Scham findet nämlich ein Actus statt, den ich 'Rückwendung auf ein Selbst' nennen möchte" (Scheler 1957). Näher bestimmt Scheler diesen Akt als Unterbrechung geistiger, auf übergeordnete Ziele gerichteter Intentionen durch eine ". . . plötzliche Zurückwendung der Beachtung auf den stets dunkel mitgegebenen Leib" (ebd. ).

Scham und Selbstbewusstheit In der plötzlichen Rückwendung auf sich selbst („Reflexion“) kommt es zu

Scham und Selbstbewusstheit In der plötzlichen Rückwendung auf sich selbst („Reflexion“) kommt es zu einer Dissoziation, einer Trennung von erlebenden und wahrnehmenden Subjekt: Der Sich Schämende verdoppelt sich, indem er sich "von außen" als Beschämter wahrnimmt, also gleichzeitig der Gesehene und der Sehende ist.

Phänomenologie der Scham Reflexives Gefühl: Perspektivenübernahme Selbstreflexion Teufelskreis von Beschämung und “Sich als beschämt

Phänomenologie der Scham Reflexives Gefühl: Perspektivenübernahme Selbstreflexion Teufelskreis von Beschämung und “Sich als beschämt von außen Sehen” (Erröten, Zittern, ungeschickte Bewegungen)

Phänomenologie der Scham ” Ich schäme mich meiner, wie ich dem anderen erscheine. .

Phänomenologie der Scham ” Ich schäme mich meiner, wie ich dem anderen erscheine. . Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen” (Sartre 1944). Scham ist der inkorporierte Blick des Anderen.

Phänomenologie der Scham Frühkindliche Entwicklung: zunächst Gefühle von Verlegenheit, Befangenheit und Scheu (8 Monats

Phänomenologie der Scham Frühkindliche Entwicklung: zunächst Gefühle von Verlegenheit, Befangenheit und Scheu (8 Monats oder Fremdenangst) Scham im vollen Sinn entwickelt sich im 2. LJ. Elementare Entwertung, “Verwerfung” Korporifizierung und Entfremdung der Leiblichkeit

Phänomenologie der Scham Paradieserzählung der Genesis: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen

Phänomenologie der Scham Paradieserzählung der Genesis: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet sein wie Gott und erkennt Gut und Böse. “ „Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusam men und machten sich einen Schurz. Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens. “

Phänomenologie der Scham „Gott, der Herr, rief Adam und sprach: Wo bist du? Er

Phänomenologie der Scham „Gott, der Herr, rief Adam und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe? “

Phänomenologie der Scham Verknüpfung der Entstehung von Reflexion, Scham und Gewissen: Erkenntnis als Selbstbewusstheit

Phänomenologie der Scham Verknüpfung der Entstehung von Reflexion, Scham und Gewissen: Erkenntnis als Selbstbewusstheit ebenso wie als Wissen um Gut und Böse („Gewissen“) beginnt mit der Übertretung des Gebots, der Erfahrung der Nacktheit und der Scham. Erkenntnis der Sterblichkeit („vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“)

Phänomenologie der Scham Paradieserzählung der Genesis: Verknüpfung der Entstehung von Reflexion, Scham und Gewissen:

Phänomenologie der Scham Paradieserzählung der Genesis: Verknüpfung der Entstehung von Reflexion, Scham und Gewissen: Erkenntnis als Selbstbewusstheit ebenso wie als Wissen um Gut und Böse beginnt mit der Erfahrung der Nacktheit und der Scham.

Scham und Gelächter Was empfinden wir typischerweise als lächerlich? - Körperliche Auffälligkeit oder Missgestaltung.

Scham und Gelächter Was empfinden wir typischerweise als lächerlich? - Körperliche Auffälligkeit oder Missgestaltung. - Ungeschicktes oder sonderbares Verhalten (Stottern, Hinken, falsche Kleidung) - Slapstick Missgeschicke (z. B. auf einer Bananenschale ausrutschen) - Andere Formen von Schwäche, Versagen, Unge schicklichkeit etc.

Scham und Gelächter Platon, Philebos: Wahrnehmung von Missgeschicken, Leiden und Demütigungen anderer als hauptsächliche

Scham und Gelächter Platon, Philebos: Wahrnehmung von Missgeschicken, Leiden und Demütigungen anderer als hauptsächliche Quelle des Lachens Hobbes: die Gelächter sei „nichts anderes der Triumph, der in der Realisierung unserer Überlegenheit besteht, verglichen mit der Unfähigkeit und Schwäche anderer“.

Scham und Gelächter Anlässe zum Lachen: plötzliches und unerwartetes Zusammentreffen von zwei Bezugssystemen Beispiel:

Scham und Gelächter Anlässe zum Lachen: plötzliches und unerwartetes Zusammentreffen von zwei Bezugssystemen Beispiel: Witze Zusammenprall von Bezugssystemen beim Lächerlichen: Diskrepanz zwischen hohen Bestrebungen einer Person und ihrer tatsächlichen Ausführung des Erstrebten Verlust der Kontrolle und körperlichen Souveränität

Scham und Gelächter Körperliche Deformität und Behinderung - Diskrepanz zwischen Norm und Abweichung -

Scham und Gelächter Körperliche Deformität und Behinderung - Diskrepanz zwischen Norm und Abweichung - zwischen dem impliziten Anspruch, der menschlichen Gemeinschaft zuzugehören, und der tatsächlichen Fehlpassung

Scham und Gelächter Verlachen wirkt in tieferer Weise demütigend als reine Missbilligung, Verachtung, entwertende

Scham und Gelächter Verlachen wirkt in tieferer Weise demütigend als reine Missbilligung, Verachtung, entwertende Worte oder objektivierende Blick unerreichbar überlegene Position Verlachen präsentiert die Entwertung und Ausschließung als “längst schon geschehen”, so als ob die Erwartung des Subjekts, anerkannt zu werden, von vorneherein eine lächerliche Illusion gewesen sei.

Scham und Gelächter Historisches Beispiel: an den Pranger stellen Sonderformen der sozialen Phobie: “Gelatophobie”

Scham und Gelächter Historisches Beispiel: an den Pranger stellen Sonderformen der sozialen Phobie: “Gelatophobie” (griech. ‘gelao’ = lachen) Erythrophobie

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Beispiel: Dysmorphophobie („Missgestaltsfurcht“) Ein 16 jähriges, schon zuvor schüchternes Mädchen entwickelte nach wiederholten Erfahrungen

Beispiel: Dysmorphophobie („Missgestaltsfurcht“) Ein 16 jähriges, schon zuvor schüchternes Mädchen entwickelte nach wiederholten Erfahrungen von Zurücksetzungen in ihrer Klasse (Hänseleien, Ausschlusssituationen, u. a. ) die Vorstellung, ihr Unterkiefer sei zu breit, die Lippen zu schmal und ihr Gesicht dadurch entstellt. Sie schloss sich immer länger im Bad ein, kontrollierte ihr Gesicht und ihr Aussehen und grübelte über Möglichkeiten nach, daran etwas zu ändern.

Dysmorphophobie („Missgestaltsfurcht“) Beruhigende Versicherungen von Eltern und Freundinnen – sie war eigentlich durchaus gutaussehend

Dysmorphophobie („Missgestaltsfurcht“) Beruhigende Versicherungen von Eltern und Freundinnen – sie war eigentlich durchaus gutaussehend – hatten keine Wirkung, auch das Aufspritzen der Lippen führte eher noch zu einer Verschlimmerung ihrer Hässlichkeitsgefühle. Nach einigen Monaten zunehmenden Rückzugs geriet sie in eine schwere Depression.

Dysmorphophobie Überwertige Ängste wegen einer vermeintlichen körper lichen Hässlichkeit oder Ent stellung, die sich

Dysmorphophobie Überwertige Ängste wegen einer vermeintlichen körper lichen Hässlichkeit oder Ent stellung, die sich vor allem auf das Gesicht als Ort der Scham expression beziehen Gefühl, von den anderen ständig beachtet, angestarrt oder verlacht zu werden, das sich bis zu paranoiden Beziehungsideen steigern kann.

Dysmorphophobie Kosmetische Operationen, die Patienten häufig vornehmen lassen, ändern meist nichts an der zugrundeliegenden

Dysmorphophobie Kosmetische Operationen, die Patienten häufig vornehmen lassen, ändern meist nichts an der zugrundeliegenden schweren Selbstwertstörung.

Dysmorphophobie Korporifizierende Wirkung der Scham: Der betreffende Körperteil tritt partikularisiert, unförmig und vergrößert hervor,

Dysmorphophobie Korporifizierende Wirkung der Scham: Der betreffende Körperteil tritt partikularisiert, unförmig und vergrößert hervor, als ständiger Gegenstand der Aufmerksamkeit Verschieden von normaler Scham: - Nicht mehr auf die aktuelle Exposition beschränkt; ständige “Selbst Zentralität” - Keine Metaperspektive auf die Situation (“Überstieg”)

Dysmorphophobie Im leiblichen Erscheinen äußert sich letztlich die tiefe Verunsicherung des Selbstwertgefühls. Der vermeintlich

Dysmorphophobie Im leiblichen Erscheinen äußert sich letztlich die tiefe Verunsicherung des Selbstwertgefühls. Der vermeintlich missgestaltete Körperteil steht als "pars pro toto" stellvertretend für eine Störung der Beziehung zu den Anderen.

Dysmorphophobie Persönlichkeit meist durch sensitiv kränkbare und gleichzeitig ehrgeizig narzisstische Tendenzen charakterisiert → besondere

Dysmorphophobie Persönlichkeit meist durch sensitiv kränkbare und gleichzeitig ehrgeizig narzisstische Tendenzen charakterisiert → besondere Bedrohung durch mögliche Zurückweisung oder Versagen Abwehrfunktion der Dysmorphophobie

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Kontraphobische Therapie der Scham “Legitimierte Lächerlichkeit”: Hoffnarr Clown Humor Therapie: Clown Maske als Mittel,

Kontraphobische Therapie der Scham “Legitimierte Lächerlichkeit”: Hoffnarr Clown Humor Therapie: Clown Maske als Mittel, um die soziale Phobie zu überwinden – paradoxe Intervention (Titze 2009)

Kontraphobische Therapie Männlicher Patient, 28 Jahre: “Speaking was connected with great fears and shame.

Kontraphobische Therapie Männlicher Patient, 28 Jahre: “Speaking was connected with great fears and shame. I felt inferior in relation to my colleagues … As soon as I realized I had started to stammer or stutter, a deep des pair came over me that further increased my shyness. In the clown therapy, I noticed that I am able to intentionally (and with great joy and fun!) produce exactly the same strange and pressured behaviour. The laughter I cause thereby no longer goes against me. It is the acknowledg ment of my success as a comedian. ”

Kontraphobische Therapie Patientin, 48 J. , als Kind sexuell missbraucht “The clown nose is

Kontraphobische Therapie Patientin, 48 J. , als Kind sexuell missbraucht “The clown nose is a mask, and my mask is the clown nose. (…) The idea of ‘losing face’ immediately loses its fright when I put on the clown nose because I lose the face I am ashamed of. This is not at all disgraceful but rather liberating. Because I lost my dignity during childhood, I have had to live my everyday life shamefully. Thus, my everyday face indicates to everyone that I lost face when I was a child …

Kontraphobische Therapie … But the clown nose frees me from this shame. It frees

Kontraphobische Therapie … But the clown nose frees me from this shame. It frees me from my ‘lost face’. This red, spherical, artificial nose allows me to block my shame. (…) It’s amazing how I can free myself when these 5 square inches of red rubber cover my nose! I can also put it this way: With my usual persona, with which I have identified since childhood, I desperately try to uphold something that, paradoxically, causes my shame. But the clown nose opens the way to a new identity: It frees me from an impinged image. … Oh, how easy, how full of joie de vivre is a clown’s life!”

Magersucht Anorexia Nervosa

Magersucht Anorexia Nervosa

Anorexie Die Anorexia Nervosa ist eine Essstörung, für die ex zessives Fasten charakteristisch ist,

Anorexie Die Anorexia Nervosa ist eine Essstörung, für die ex zessives Fasten charakteristisch ist, und die mit einem ausgeprägten, häufig lebensgefährlichen Gewichtsverlust einhergeht. Betroffen sind vor allem junge Frauen aus den oberen Schichten moderner Gesellschaften (90% Frauen; in Deutschland 0, 5 3, 7% der weiblichen Bevölkerung)

Anorexie Bezeichnung „Anorexia hysterica“ von William Gull (1874) Anorexie („Appetitlosigkeit“) – trifft eigentlich nicht

Anorexie Bezeichnung „Anorexia hysterica“ von William Gull (1874) Anorexie („Appetitlosigkeit“) – trifft eigentlich nicht zu, vielmehr gezielte Aushungerung des Körpers

Anorexie Dialektik von Leib Sein und Körper Haben Ablehnung des Körpers, aber nicht nur

Anorexie Dialektik von Leib Sein und Körper Haben Ablehnung des Körpers, aber nicht nur der äußeren Formen, des „body image“, sondern auch - der leiblichen Triebregungen - der leiblichen Empfindungen des Schwellens, des Völlegefühls Entstehung mit der Veränderung des Körpers in der Pubertät (Beginn häufig mit Diät)

Anorexie Körper wird zum Objekt zwanghafter Kontrolle - restriktiver Typus - „purging“ Typus (to

Anorexie Körper wird zum Objekt zwanghafter Kontrolle - restriktiver Typus - „purging“ Typus (to purge = abführen)

Diagnosekriterien (ICD 10) - Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem zu erwartenden Gewicht

Diagnosekriterien (ICD 10) - Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem zu erwartenden Gewicht oder Body Mass Index von 17, 5 oder weniger - Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von energiereicher Nahrung und zusätzlich mindestens eine der folgenden Möglichkeiten: - selbstinduziertes Erbrechen - selbstinduziertes Abführen - übertriebene körperliche Aktivität - Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika

Diagnosekriterien (ICD 10) - „Körperschema“ Störung (verzerrte Wahrnehmung der Körpergestalt als „zu dick“; eigentlich

Diagnosekriterien (ICD 10) - „Körperschema“ Störung (verzerrte Wahrnehmung der Körpergestalt als „zu dick“; eigentlich body image, nicht body schema) - Endokrine Störungen, bei Frauen manifestiert als Amenorrhoe, bei Männern als Libido und Potenzverlust - Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklung gestört (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung)

Anorexie Chronischer Hunger: Einengung des Denkens auf die Themen Ernährung, Gewicht und Körperschema Gesteigerte

Anorexie Chronischer Hunger: Einengung des Denkens auf die Themen Ernährung, Gewicht und Körperschema Gesteigerte Sinneswahrnehmung, leuchtendere Farben; leichte Euphorisierung, ähnlich dem „Runner’s High“

Anorexie „Zu Hungern wirkte ähnlich wie ein Rauschgift, und man hat das Gefühl, außerhalb

Anorexie „Zu Hungern wirkte ähnlich wie ein Rauschgift, und man hat das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu stehen. Man steht tatsächlich neben sich, und damit befindet man sich in einem anderen Bewusstseinszu stand und kann Schmerzen ertragen, ohne darauf reagieren zu müsssen“ (Bruch 1986). „Für mich kommt dem Magersein die Funktion einer Droge zu, mittels der man versucht, sich passiv in eine paradiesische Welt zurückversetzen zu lassen“ (Graf 1985).

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Rolle des kulturell geprägten weiblichen Körperideals Anne Becker: Einführung

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Rolle des kulturell geprägten weiblichen Körperideals Anne Becker: Einführung des Fernsehens in der Provinz Nadroga auf der Hauptinsel des Fidschi Archipels 1995. Untersuchung von Teenagern einen Monat nach Beginn der Ausstrahlungen und drei Jahre später 1998: 1/3 sehr hohe Werte bei einem Essstörungs Test, dreimal so hoch in Haushalten mit Fernseher wie in Haushalten ohne. 11 % Erbrechen zur Gewichtskontrolle

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Ziel der Schlankheit ist jedoch nicht in erster Linie

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Ziel der Schlankheit ist jedoch nicht in erster Linie sexuelle Attraktivität; Ideal des engelsgleichen, asexuellen, ja letztlich des verschwindenden Körpers Ekel vor weichen, fülligen, weiblichen Formen Sheila Mac. Leod (1983): „Weibliches Fleisch ist der Inbegriff von allem Geschwollenen, Verunreinigten, Schmutzigen“. Nur der dünne Körper sei „sauber, wohlgeformt und ordentlich“.

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Für eine andere Patienten ist ihr weiblicher Körper nur

Anorexie: Body image und Weiblichkeit Für eine andere Patienten ist ihr weiblicher Körper nur „eine strukturlose, unförmige, gallertartige, nichtssagende Masse“ (Gerlinghoff 1999). „Mein Körper ist hart, kantig und kompakt. Es gibt dort nichts Weiches, Rundes, und das soll auch so bleiben, bis in alle Ewigkeit“ (Fechner 2007) „Nur noch Knochen, kein entstellendes Fleisch mehr, nur noch reine, klare Gestalt. Knochen“ (Shute 1994)

Anorexie: Ekel „Es ekelte mich vor mir selbst, vor meinem vollgestopf ten Körper. (…)

Anorexie: Ekel „Es ekelte mich vor mir selbst, vor meinem vollgestopf ten Körper. (…) Der Geschmack von faulen Eiern stieg in mir hoch. Ich stellte mir vor, wie nun alles in mir in einen Fäulnisprozess übergegangen sein musste. “ (Graf 1988)

Anorexie: Kontrolle und Entfremdung „Meine aufgebaute Essbarriere war stahlhart und schützte mich vor allen

Anorexie: Kontrolle und Entfremdung „Meine aufgebaute Essbarriere war stahlhart und schützte mich vor allen genüsslichen Verführungen. Jedesmal, wenn ich mich gut beherrschen konnte, wurde sie noch stabiler. Ich war beruhigt, das Essen konnte mir nichts mehr anhaben. Später wurde mir bewusst, dass ich mir beim Anblick von etwas Essbarem gar nicht mehr vorstellen konnte, dass jemand es essen könnte. Es kam mir wie ein fremder Gegenstand vor. Die Esswaren wurden für mich zu künstlichen Gebilden. “ (Graf 1986)

Anorexie: Kampf um Autonomie und Kontrolle „Alles ist übersichtlich und planbar. Kontrollierbar. Und ich

Anorexie: Kampf um Autonomie und Kontrolle „Alles ist übersichtlich und planbar. Kontrollierbar. Und ich habe die Kontrolle. Die Magersuchtswelt ist so gänzlich verschieden von der realen Welt, die oft unberechenbar, sprunghaft, spontan und überraschend ist“ (Fechner 2007). „[Ich empfinde nur] … Abscheu gegen diese Vollgefressenen, Immersatten, die in ihrem Leben niemals hungern müssen, in ihrer vollgefressenen Gleichgültigkeit …“ (Graf 1986)

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ „Mein Körper bin nicht ich. Immer wieder flüchte ich mich

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ „Mein Körper bin nicht ich. Immer wieder flüchte ich mich in den Sport, um ihn überhaupt zu fühlen. Wenn er erschöpft ist, wenn er schmerzt, dann fühle ich ihn am besten“ (Lena 2006). Der Leib wird wie in der platonischen und zum Teil auch christlichen Tradition zum „Kerker der Seele“ (Platon, Gorgias) zum Körper, den man widerwillig hat, an den man gekettet ist, und der dafür diszipliniert, bestraft und ausgehungert wird bis hin zum Tod.

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ „Es war, als müsste ich meinen Körper bestrafen. Ich hasse

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ „Es war, als müsste ich meinen Körper bestrafen. Ich hasse und ver ab scheue ihn. Wenn ich ihn ein paar Tage normal behandelte, musste ich ihn wie der entbehren las sen. Ich fühlte mich in meinem Körper gefangen – so lange ich ihn unter stren ger Kontrolle hatte, konnte er mich nicht betrü gen“ (Kaplan 1988). „Jeden Abend ließ ich mich überglücklich ins Bett fallen […] Die Natur, mein Körper, hatten mich noch nicht in die Knie gezwungen! Ich blieb immer noch Sieger im Kampf gegen alles, obwohl ich merkte, wie die Schwäche lang sam meine Macht und Erhabenheit untergrub“ (Graf 1986).

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ Ideal des unleiblichen, asexuellen, engelshaften Körpers Leitbild ist nicht das

Anorexie: Leibentfremung und „Disembodiment“ Ideal des unleiblichen, asexuellen, engelshaften Körpers Leitbild ist nicht das Model, sondern die Heilige „Als sie hingegen durch ihr Hungern abzunehmen begann, erlebte sie ihre leibliche Leichtigkeit als Reinheit, die sie beglückte. Sehr starkes Hungern konnte sie in einen beseligenden Schwebezustand bringen, in dem auch die Dinge um sie herum von einer Luftigkeit (…) und einer himmlichen Schwerelosigkeit wurden. Sie meinte, so ungefähr müsse Engeln zumute sein. Fast jede Nacht habe sie damals Fliege und Schwebeträume gehabt. “ (Boss 1954)