Vorlesung Sommersemester 2017 Geschichte der deutschen Literatur II

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Vorlesung Sommersemester 2017: Geschichte der deutschen Literatur II: Goethezeit. Lenore und die Folgen: G.

Vorlesung Sommersemester 2017: Geschichte der deutschen Literatur II: Goethezeit. Lenore und die Folgen: G. A. Bürger.

Gottfried August Bürger (1747 -1794) Pfarrerssohn aus dem Ostharz, 1764 Theologiestudium in Halle, 1768

Gottfried August Bürger (1747 -1794) Pfarrerssohn aus dem Ostharz, 1764 Theologiestudium in Halle, 1768 Jura in Göttingen, Freundschaft mit H. Chr. Boie, Mitglied des „Hainbundes“, Lenore u. a. „Volksballaden“ (oft nach dem Vorbild von Thomas Percys Reliques of Ancient Poetry), satirische Gedichte, Übersetzungen von Macbeth, den Anfängen der Ilias Homers. Ab 1778 nach Boie Herausgeber des Göttinger Musenalmanach.

1772 -1784 durch Boies Vermittlung Amtmann der gräflichen Familie von Uslar in Gelliehausen bei

1772 -1784 durch Boies Vermittlung Amtmann der gräflichen Familie von Uslar in Gelliehausen bei Göttingen, verantwortlich für sechs Dörfer: „Ich bin wie in ein dumpfes Grab verschlossen, ich kann nicht atmen, ich ersticke. “ 1789 außerordentlicher Professor in Göttingen.

Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu Zerrollen mich dein Wagenrad, Zerschlagen darf dein

Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu Zerrollen mich dein Wagenrad, Zerschlagen darf dein Roß? Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut Darf Klau’ und Rachen hau’n? Wer bist du, daß, durch Saat und Forst, Das Hurra deiner Jagd mich treibt, Entatmet, wie das Wild? – Die Saat, so deine Jagd zertritt, Was Roß und Hund Du verschlingst, Das Brot, du Fürst, ist mein. Du Fürst hast nicht, bei Egg’ und Pflug, Hast nicht den Erntetag durchschwitzt. Mein, mein ist Fleiß und Brot! – Ha! du wärst Obrigkeit von Gott? Gott spendet Segen aus; du raubst! Du nicht von Gott, Tyrann! Gottfried August Bürger: Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen (1773)

Goethe an Bürger, Februar 1774: Ich thue mir was drauf zu gute, dass ich’s

Goethe an Bürger, Februar 1774: Ich thue mir was drauf zu gute, dass ich’s binn der die Papierne Scheidewand zwischen uns einschlägt. Unsre Stimmen sind sich offt begegnet und unsre Herzen auch. Ist nicht das Leben kurz und öde genug? sollen die sich nicht anfassen deren Weg mit einander geht. Goethe an Bürger (für den er öffentlich um Spenden gebeten hat, mit einer Geldsendung), April 1778: Sie haben so lang nichts von sich hören lassen, daß ich kaum weiß, wo Sie sind, und ich werde auch allen Menschen so fremd.

G. A. Bürgers öffentliches Unglück 1774 Heirat mit Dorothea Leonart, bald darauf Liebe zu

G. A. Bürgers öffentliches Unglück 1774 Heirat mit Dorothea Leonart, bald darauf Liebe zu deren Schwester „Molly“, Versuch einer menage-à-trois (vgl. Goethe, Stella). 1784 Tod Dorotheas, 1785 Hochzeit mit Molly, 1786 Tod Mollys im Kindbett. (Salomon Hermann Mosenthal: Bürger und Molly, oder ein deutsches Dichterleben: Schauspiel in 5 Aufzügen, 1851. ) 1790 Hochzeit mit Elise Hahn aufgrund eines missverstandenen Studentenscherzes, öffentliche unglückliche Ehe, 1791 Geburt eines geistig behinderten Sohnes, 1792 Scheidung. Jan. 1791 Friedrich Schillers Verriss Über Bürgers Gedichte in der Allge. Meinen Litteratur-Zeitung, Bürgers Antikritik. 1792 Schwindsucht, Verlust der Stimme (und der Vorlesungen). 1794 stirbt Bürger verarmt und vereinsamt in Göttingen.

G. A. Bürgers Theorie der „Volkstümlichkeit“ „Alle Poesie soll volkstümlich sein, denn das ist

G. A. Bürgers Theorie der „Volkstümlichkeit“ „Alle Poesie soll volkstümlich sein, denn das ist das Siegel ihrer Vollkommenheit. … nicht eben aus der toten Schrift-, sondern mitten aus der lebendigen Mundsprache aufgegriffenen Ausdrucke derselben …“: ein säkularisiertes Argument der pietistischen Verkündigung und Seelsorge, in sozialer und politischer Wirkungsabsicht.

Lenore (1773 – im Jahr des Götz) Lenore fuhr ums Morgenrot Empor aus schweren

Lenore (1773 – im Jahr des Götz) Lenore fuhr ums Morgenrot Empor aus schweren Träumen: „Bist untreu, Wilhelm, oder tot? Wie lange willst du säumen? “ Er war mit König Friedrichs Macht Gezogen in die Prager Schlacht* Und hatte nicht geschrieben, Ob er gesund geblieben. Der König und die Kaiserin, Des langen Haders müde, Erweichten ihren harten Sinn Und machten endlich Friede; Und jedes Heer, mit Sing und Sang, Mit Paukenschlag und Kling und Klang, Geschmückt mit grünen Reisern, Zog heim zu seinen Häusern. Vorlage: ein altes „Spinnstubenlied“ religiös-moralischen Inhalts. Präsentation, Diskussion, Umarbeitung im Göttinger Hain. 1774 veröffentlicht im Göttinger Musen-Almanach. *Zeitgeschichte: Im Siebenjährigen Krieg besiegt das Herr des Königs Friedrich II. von Preußen die Truppen der österreichischen Kaiserin Maria Theresia. Der „Hubertusburger Frieden“ 1757.

Und überall, allüberall Auf Wegen und auf Stegen, Zog alt und jung dem Jubelschall

Und überall, allüberall Auf Wegen und auf Stegen, Zog alt und jung dem Jubelschall Der Kommenden entgegen. Gottlob! rief Kind und Gattin laut, Willkommen! manche frohe Braut. Ach! aber für Lenoren War Gruß und Kuss verloren. Sie frug den Zug wohl auf und ab Und frug nach allen Namen; Doch keiner war, der Kundschaft gab, Von allen, so da kamen. Als nun das Heer vorüber war, Zerraufte sie ihr Rabenhaar* Und warf sich hin zur Erde Mit wütiger Gebärde. *Vorausdeutung!

Die Mutter lief wohl hin zu ihr: – „Ach, dass sich Gott erbarme! Du

Die Mutter lief wohl hin zu ihr: – „Ach, dass sich Gott erbarme! Du trautes Kind, was ist mit dir? “ – Und schloss sie in die Arme. – „O Mutter, Mutter! hin ist hin! Nun fahre Welt und alles hin! Bei Gott ist kein Erbarmen. O weh, o weh mir Armen!“ – „Hilf Gott, hilf! Sieh uns gnädig an! Kind, bet ein Vaterunser! Was Gott tut, das ist wohlgetan. Gott, Gott erbarmt sich unser!“ – „O Mutter, Mutter! Eitler Wahn! Gott hat an mir nicht wohlgetan! Was half, was half mein Beten? Nun ist’s nicht mehr vonnöten. “ –

„Hilf Gott, hilf! Wer den Vater kennt, Der weiß, er hilft den Kindern. Das

„Hilf Gott, hilf! Wer den Vater kennt, Der weiß, er hilft den Kindern. Das hochgelobte Sakrament Wird deinen Jammer lindern. “ – „O Mutter, Mutter! was mich brennt, Das lindert mir kein Sakrament! Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben. “ – „Hör, Kind! wie, wenn der falsche Mann Im fernen Ungerlande Sich seines Glaubens abgetan Zum neuen Ehebande? Lass fahren, Kind, sein Herz dahin! Er hat es nimmermehr Gewinn!* Wann Seel’ und Leib sich trennen, Wird ihn sein Meineid brennen. “ – *Luther-Ton (Ein feste Burg…)

„O Mutter, Mutter! Hin ist hin! Verloren ist verloren! Der Tod, der Tod ist

„O Mutter, Mutter! Hin ist hin! Verloren ist verloren! Der Tod, der Tod ist mein Gewinn! O wär ich nie geboren! Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus! Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus! Bei Gott ist kein Erbarmen. O weh, o weh mir Armen!“ – „Hilf Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde! Sie weiß nicht, was die Zunge spricht. Behalt ihr nicht die Sünde! Ach, Kind, vergiss dein irdisch Leid Und denk an Gott und Seligkeit! So wird doch deiner Seelen Der Bräutigam nicht fehlen. “ –* *Religion: Christus als der Seelen-Bräutigam

„O Mutter! Was ist Seligkeit? O Mutter! Was ist Hölle? Bei ihm, bei ihm

„O Mutter! Was ist Seligkeit? O Mutter! Was ist Hölle? Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit, Und ohne Wilhelm Hölle! – Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus! Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus! Ohn’ ihn mag ich auf Erden, Mag dort nicht selig werden. “ – – – So wütete Verzweifelung Ihr in Gehirn und Adern, Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern; Zerschlug den Busen und zerrang Die Hand bis Sonnenuntergang, Bis auf am Himmelsbogen Die goldnen Sterne zogen.

Und außen, horch! ging’s trapp, Als wie von Rosseshufen; Und klirrend stieg ein Reiter

Und außen, horch! ging’s trapp, Als wie von Rosseshufen; Und klirrend stieg ein Reiter ab An des Geländers Stufen; Und horch! und horch! den Pfortenring Ganz lose, leise, klingling! Dann kamen durch die Pforte Vernehmlich diese Worte: „Holla, Holla! Tu auf, mein Kind! Schläfst, Liebchen, oder wachst du? Wie bist noch gegen mich gesinnt? Und weinest oder lachst du? “ – „Ach, Wilhelm, du? – So spät bei Nacht? – Geweinet hab ich und gewacht; Ach, großes Leid erlitten! Wo kommst du hergeritten? “ –

„Wir satteln nur um Mitternacht. Weit ritt ich her von Böhmen. Ich habe spät

„Wir satteln nur um Mitternacht. Weit ritt ich her von Böhmen. Ich habe spät mich aufgemacht Und will dich mit mir nehmen. “ – „Ach, Wilhelm, erst herein geschwind! Den Hagedorn durchsaust der Wind, Herein, in meinen Armen, Herzliebster, zu erwarmen!“ – „Lass sausen durch den Hagedorn, Lass sausen, Kind, lass sausen! Der Rappe scharrt; es klirrt der Sporn, Ich darf allhier nicht hausen. Komm, schürze, spring und schwinge dich Auf meinen Rappen hinter mich! Muss heut noch hundert Meilen Mit dir ins Brautbett eilen. “

„Ach! wolltest hundert Meilen noch Mich heut ins Brautbett tragen? Und horch! es brummt

„Ach! wolltest hundert Meilen noch Mich heut ins Brautbett tragen? Und horch! es brummt die Glocke noch, Die elf schon angeschlagen. “ – „Sieh hin, sieh her! der Mond scheint hell. Wir und die Toten reiten schnell. Ich bringe dich, zur Wette, Noch heut ins Hochzeitbette. “ – „Sag an, wo ist dein Kämmerlein? Wo? Wie dein Hochzeitbettchen? “ – „Weit, weit von hier! – Still, kühl und klein! – Sechs Bretter und zwei Brettchen!“ „Hat’s Raum für mich? “ – „Für dich und mich! Komm, schürze, spring und schwinge dich! Die Hochzeitgäste hoffen; Die Kammer steht uns offen. “ –

Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang Sich auf das Ross behende; Wohl um den

Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang Sich auf das Ross behende; Wohl um den trauten Reiter schlang Sie ihre Lilienhände; Und hurre, hop hop! Ging’s fort in sausendem Galopp, Dass Ross und Reiter schnoben Und Kies und Funken stoben. Zur rechten und zur linken Hand, Vorbei vor ihren Blicken, Wie flogen Anger, Heid’ und Land! Wie donnerten die Brücken! – „Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell! Hurra! die Toten reiten schnell! Graut Liebchen auch vor Toten? “ – „Ach nein! – Doch lass die Toten!“ –

Was klang dort für Gesang und Klang? Was flatterten die Raben? – Horch, Glockenklang!

Was klang dort für Gesang und Klang? Was flatterten die Raben? – Horch, Glockenklang! horch, Totensang: „Lasst uns den Leib begraben!“ Und näher zog ein Leichenzug, Der Sarg und Totenbahre trug. Das Lied war zu vergleichen Dem Unkenruf in Teichen. „Nach Mitternacht begrabt den Leib Mit Klang und Sang und Klage! Jetzt führ ich heim mein junges Weib. Mit, mit zum Brautgelage! Komm, Küster, hier! Komm mit dem Chor, Und gurgle mir das Brautlied vor! Komm, Pfaff, und sprich den Segen, Eh wir zu Bett uns legen!“ –

Still Klang und Sang. – Die Bahre schwand. – Gehorsam seinem Rufen Kam’s, hurre!

Still Klang und Sang. – Die Bahre schwand. – Gehorsam seinem Rufen Kam’s, hurre! nachgerannt, Hart hinter’s Rappen Hufen. Und immer weiter, hop hop! Ging’s fort in sausendem Galopp, Dass Ross und Reiter schnoben, Und Kies und Funken stoben. Wie flogen rechts, wie flogen links Gebirge, Bäum und Hecken! Wie flogen links und rechts und links Die Dörfer, Städt und Flecken! – „Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell! Hurra! die Toten reiten schnell! Graut Liebchen auch vor Toten? “ – „Ach! Lass sie ruhn, die Toten!“ –

Sieh da! sieh da! am Hochgericht* Tanzt um des Rades Spindel, Halb sichtbarlich bei

Sieh da! sieh da! am Hochgericht* Tanzt um des Rades Spindel, Halb sichtbarlich bei Mondenlicht, Ein luftiges Gesindel. –* „Sasa! Gesindel, hier! Komm hier! Gesindel, komm und folge mir! Tanz uns den Hochzeitreigen, Wann wir zu Bette steigen!“ – Und das Gesindel, husch! Kam hinten nachgeprasselt, Wie Wirbelwind am Haselbusch Durch dürre Blätter rasselt. Und weiter, hop hop! Ging’s fort in sausendem Galopp, Dass Ross und Reiter schnoben, Und Kies und Funken stoben. *Galgen *Gehängte

Wie flog, was rund der Mond beschien, Wie flog es in die Ferne! Wie

Wie flog, was rund der Mond beschien, Wie flog es in die Ferne! Wie flogen oben überhin Der Himmel und die Sterne! – „Graut Liebchen auch? – Der Mond scheint hell! Hurra! die Toten reiten schnell! Graut Liebchen auch vor Toten? “ – „O weh! Lass ruhn die Toten!“ – – – „Rapp’! Mich dünkt, der Hahn schon ruft. – Bald wird der Sand verrinnen – Rapp’! Ich wittre Morgenluft – Rapp’! Tummle dich von hinnen! – Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf! Das Hochzeitbette tut sich auf! Die Toten reiten schnelle! Wir sind, wir sind zur Stelle. “ – – –

Rasch auf ein eisern Gittertor Ging’s mit verhängtem Zügel. Mit schwanker Gert’ ein Schlag

Rasch auf ein eisern Gittertor Ging’s mit verhängtem Zügel. Mit schwanker Gert’ ein Schlag davor Zersprengte Schloss und Riegel. Die Flügel flogen klirrend auf, Und über Gräber ging der Lauf. Es blinkten Leichensteine Rundum im Mondenscheine. Ha sieh! im Augenblick, Huhu! ein grässlich Wunder! Des Reiters Koller, Stück für Stück, Fiel ab wie mürber Zunder, Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf, Zum nackten Schädel ward sein Kopf; Sein Körper zum Gerippe, Mit Stundenglas und Hippe.

Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp’, Und sprühte Feuerfunken; Und hui! war’s unter

Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp’, Und sprühte Feuerfunken; Und hui! war’s unter ihr hinab Verschwunden und versunken. Geheul! Geheul aus hoher Luft, Gewinsel kam aus tiefer Gruft. Lenorens Herz, mit Beben, Rang zwischen Tod und Leben. Nun tanzten wohl bei Mondenglanz, Rundum herum im Kreise, Die Geister einen Kettentanz Und heulten diese Weise: „Geduld! Wenn’s Herz auch bricht! Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!“

Friedrich Schiller, Über Bürgers Gedichte (anonym 1791): Eine nothwendige Operation des Dichters ist Idealisierung

Friedrich Schiller, Über Bürgers Gedichte (anonym 1791): Eine nothwendige Operation des Dichters ist Idealisierung seines Gegenstandes, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Ihm kommt es zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien, die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Art im Einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines inneren Ideals von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt. Zu je größerer Reinheit und Fülle er dieses innere allgemeine Ideal ausgebildet hat, desto mehr werden auch jene einzelnen sich der höchsten Vollkommenheit nähern. Diese Idealisierkunst vermissen wir zu sehr bei Hrn. Bürger. …

Rec<ensent> muß gestehen, daß er unter allen Bürger‘schen Gedichten … beinahe keines zu nennen

Rec<ensent> muß gestehen, daß er unter allen Bürger‘schen Gedichten … beinahe keines zu nennen weiß, das ihm einen durchaus reinen, durch gar kein Mißfallen erkauften Genuß gewährt hätte …: so war uns diese Störung bei so vollem Genuß um so widriger, weil sie uns das Urtheil abnöthigte, daß der Geist, der sich in diesen Gedichten darstellte, kein gereifter, kein vollendeter Geist sei, daß seinen Produkten nur deßwegen die letzte Hand fehlen möchte, weil sie – ihm selbst fehlte. Aus dem Geiste von Über die ästhetische Erziehung des Menschen: • bloße Reproduktion der Volksüberlieferung statt sittlicher Läuterung; • trivial-schaurige Unterhaltungsliteratur • statt Erziehung zum „ganzen Menschen“. • Vom Sturm und Drang zur Klassik, Etablierung des Theoretikers Schiller.

August Wilhelm Schlegel über Schillers Kritik an Bürger: Er hätte Bürger nicht tadeln sollen,

August Wilhelm Schlegel über Schillers Kritik an Bürger: Er hätte Bürger nicht tadeln sollen, Weil er ihn nicht gehörig zu loben verstand.

Aus der englischen Ausgabe, Lady Diana Beauclerc. Horace Vernet: Lenore

Aus der englischen Ausgabe, Lady Diana Beauclerc. Horace Vernet: Lenore

Walter Scott: William and Helen (1796) (und Götz!) E. A. Poe: The Raven (1845)

Walter Scott: William and Helen (1796) (und Götz!) E. A. Poe: The Raven (1845)

Bearbeitung der Münchhausen-Geschichten des Anonymus 1774 und Rudolf Erich Raspes (17361794, Baron Munchausen’s Narrative

Bearbeitung der Münchhausen-Geschichten des Anonymus 1774 und Rudolf Erich Raspes (17361794, Baron Munchausen’s Narrative of his Marvellous Travels and Campaigns in Russia, 1785), unter Mithilfe des Freundes Georg Christoph Lichtenberg. …zum Beispiel die (neu erfundene) Geschichte vom Baron mit der silbernen Hirnschale: von der Lügengeschichte über die Adelssatire zum romantisch-selbstreflexiven Spiel der Poesie.

Die Kälte des Landes und die Sitten der Nation haben der Bouteille unter den

Die Kälte des Landes und die Sitten der Nation haben der Bouteille unter den gesellschaftlichen Unterhaltungen in Rußland einen viel höhern Rang angewiesen als in unserm nüchternen Deutschlande; und ich habe daher dort häufig Leute gefunden, die in der edlen Kunst zu trinken für wahre Virtuosen gelten konnten. Alle waren aber elende Stümper gegen einen graubartigen, kupferfarbigen General, der mit uns an dem öffentlichen Tische speisete. Der alte Herr, der seit einem Gefechte mit den Türken die obere Hälfte seines Hirnschädels vermißte und daher, sooft ein Fremder in die Gesellschaft kam, sich mit der artigsten Treuherzigkeit entschuldigte, daß er an der Tafel seinen Hut aufbehalten müsse, pflegte immer während dem Essen einige Flaschen Weinbranntwein zu leeren und dann gewöhnlich mit einer Bouteille Arrak den Beschluß oder nach Umständen einige Male da capo zu machen; und doch konnte man nicht einziges Mal auch nur so viel Betrunkenheit an ihm merken. – Die Sache übersteigt Ihren Glauben. Ich verzeihe es Ihnen, meine Herren; sie überstieg auch meinen Begriff.

Ich wußte lange nicht, wie ich sie mir erklären sollte, bis ich ganz von

Ich wußte lange nicht, wie ich sie mir erklären sollte, bis ich ganz von ungefähr den Schlüssel fand. – Der General pflegte von Zeit zu Zeit seinen Hut etwas aufzuheben. Dies hatte ich oft gesehen, ohne daraus nur Arg zu haben. Daß es ihm warm vor der Stirne wurde, war natürlich, und daß er dann seinen Kopf lüftete, nicht minder. Endlich aber sah ich, daß er zugleich mit seinem Hute eine an demselben befestigte silberne Platte aufhob, die ihm statt des Hirnschädels diente, und daß alsdann immer aller Dunst der geistigen Getränke, die er zu sich genommen hatte, in einer leichten Wolke in die Höhe stieg. Nun war auf einmal das Rätsel gelöset. Ich sagte es ein paar guten Freunden und erbot mich, da es gerade Abend war, als ich die Bemerkung machte, die Richtigkeit derselben sogleich durch einen Versuch zu beweisen. Ich trat nämlich mit meiner Pfeife hinter den General und zündete, gerade als er den Hut niedersetzte, mit etwas Papier die aufsteigenden Dünste an; und nun sahen wir ein ebenso neues als schönes Schauspiel.

Ich hatte in einem Augenblicke die Wolkensäule über dem Haupte unsers Helden in eine

Ich hatte in einem Augenblicke die Wolkensäule über dem Haupte unsers Helden in eine Feuersäule verwandelt, und derjenige Teil der Dünste, der sich noch zwischen den Haaren des Hutes verweilte, bildete in dem schönsten blauen Feuer einen Nimbus, prächtiger, als irgendeiner den Kopf des größten Heiligen umleuchtet hat. Mein Experiment konnte dem General nicht verborgen bleiben; er war aber so wenig ungehalten darüber, daß er uns vielmehr noch manchmal erlaubte, einen Versuch zu wiederholen, der ihm ein so erhabenes Ansehen gab.

Gedenkblatt Zu Gottfried August Bürgers hundertjährigem Todestag. (1894)

Gedenkblatt Zu Gottfried August Bürgers hundertjährigem Todestag. (1894)

Goethe: Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten. Erste Fassung abgeschlossen im April

Goethe: Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten. Erste Fassung abgeschlossen im April 1775, Uraufführung Hamburg am 8. Februar 1776 – wieder ein Skandal, wieder Zensurprobleme (Hauptpastor Goeze). Zweite Fassung: Stella. Eine Tragödie. Entstanden Weimar 1803 -05, Uraufführung im Weimarer Hoftheater am 15. Januar 1806.

Bürgers Tragödie und Goethes Stella: Sturm und Drang – im klassizistischen Gewand • große

Bürgers Tragödie und Goethes Stella: Sturm und Drang – im klassizistischen Gewand • große Welt – private Sphäre • Außenwelt – Innenwelt • Weltgeschichte – Familiengeschichte • Kraftkerl auf verlorenem Posten – entkräfteter Kraftkerl auf der Siegerstraße • shakespearisierend-epische Darstellung vs. ‚klassizistische’ Rücksicht auf die drei Einheiten Während der „Sturm und Drang“-Götz zeigt, wo die Aufklärung mit ihrem Menschenbild und Fortschrittsoptimismus an ihre Grenzen stößt, zeigt Stella, wie sich „Sturm und Drang“ als fortgesetzte Aufklärung begreifen lässt. Nicht der unbedingte Anspruch auf individuelle Entfaltung und individuelles Glück lässt sich durch Vernunftgründe ‚aufklären’, wohl aber der private und gesellschaftliche Umgang mit ihnen.

Johann Melchior Goeze, Freywillige Beyträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit

Johann Melchior Goeze, Freywillige Beyträge zu den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit , zwei Wochen nach der Uraufführung am 23. Februar 1776: Wehe der Welt der Aergerniß halber! es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt! (Mt 18, 7) J. W. Göthe. . . wünschte Proselyten zu machen, und schrieb zu dem Ende dieses Schauspiel, und zwar für Liebende. Ich glaube, daß dieses Wort hier in einer sehr weitläufigen Bedeutung, welche Meyneidige, Hurer und Ehebrecher mit einschliesst, genommen werden müsse. O Gott! wie erschrecklich reisset das Verderben unter uns ein, da ein Komoediant, der die Rolle des lasterhaften Bösewichtes spielet, es wagen darf, auf diese Art den allerheiligsten Nahmen Gottes, auf öffentlicher Schaubühne, in dem evangelischen Hamburg, zu entheiligen. Muß nicht darauf der Fluch folgen?

Stella: „Ich brauche viel, viel um dies Herz auszufüllen! [. . . ] Sonst,

Stella: „Ich brauche viel, viel um dies Herz auszufüllen! [. . . ] Sonst, da er dich noch liebte, noch in deinem Schoosse lag, füllte sein Blick deine ganze Seele; und – o Gott im Himmel! dein Rathschluss ist unerforschlich – wenn ich von seinen Küssen, meine Augen zu dir hinaufwendete, mein Herz an dem seinen glühte, und ich mit bebenden Lippen seine große Seele in mich trank, und ich dann mit Wonneträhnen zu dir hinaufsah, und aus vollem Herzen zu dir sprach: Lass uns glüklich Vater! du hast uns so glüklich gemacht!“

Fernando: „Stella, lass mich wieder deinen lieben Athem trinken, deinen Athem, gegen den mir

Fernando: „Stella, lass mich wieder deinen lieben Athem trinken, deinen Athem, gegen den mir alle Himmelsluft leer, unerquiklich war! – – [. . . ] Hauche in diesen augetrokneten, verstürmten, zerstörten Busen, wieder neue Liebe, neue Lebenswonne, aus der Fülle deines Herzens! [. . . ] Du fühlst nicht, was Himmelsthau dem Dürstenden ist, der aus der öden sandigten Welt an deinen Busen zurükkehrt. “ 1. quasi-religiöser Kult des Eros vs. Risiken der erotischen Praxis

Luzie. Ihre Dienerinn. Fernando. Ich bin glüklich eine so schöne Tischgesellschafft zu finden. Luzie.

Luzie. Ihre Dienerinn. Fernando. Ich bin glüklich eine so schöne Tischgesellschafft zu finden. Luzie. neigt sich. [. . . ] Fernando. Also ein Tête à Tête! Luzie. Den Tisch dazwischen, wie ichs wohl leiden kann. Fernando. Sie haben sich entschlossen der Frau Baronesse künftig Gesellschafft zu leisten? Luzie. Ich muss wohl! Fernando. Mich dünkt, Ihnen sollte es nicht fehlen, einen Gesellschaffter zu finden, der noch unterhaltender wäre, als die Frau Baronesse. Luzie. Mir ist nicht drum zu thun. Fernando. Auf Ihr ehrlich Gesicht? Luzie. Mein Herr, Sie sind wie alle Männer, merk ich!

2. Umschlagen der enttäuschten Liebeshoffnung in Todeskult Stella: „…dass ich allein bin; vergebens nach

2. Umschlagen der enttäuschten Liebeshoffnung in Todeskult Stella: „…dass ich allein bin; vergebens nach allen vier Winden meine Arme ausstrecke, den Zauber der Liebe vergebens mit einem Drang, einer Fülle ausspreche, dass ich meine, ich müsste den Mond herunter ziehen! – Und ich allein bin, keine Stimme mir aus dem Gebüsch antwortet, und die Sterne kalt und freundlich über meine Qual herabblinken! – Und dann auf einmal das Grab meines Kindes zu meinen Füssen! –“

„Fülle der Nacht, umgieb mich! fasse mich! leite mich! ich weiß nicht wohin ich

„Fülle der Nacht, umgieb mich! fasse mich! leite mich! ich weiß nicht wohin ich trete! – – [. . . ] Verbannt aus deiner Schöpfung! wo du heiliger Mond auf den Wipfeln meiner Bäume dämmerst; wo du mit furchtbar lieben Schatten das Grab meiner holden Mina umgiebst, soll ich nicht mehr wandeln? [. . . ] Und du, worüber ich so oft mit Andacht und Thränen gewohnt habe, Stätte meines Grabs! die ich mir weihte, wo umher alle Wehmuth, alle Wonne meines Lebens dämmert; wo ich noch abgeschieden um [: umher] zu schweben, und die Vergangenheit all schmachtend zu genießen hoffte; von dir auch verbannt seyn? – Verbannt seyn!“

Cezilies Gebet, 4. Akt: Sieh herab auf deine Kinder, und ihre Verwirrung, ihr Elend!

Cezilies Gebet, 4. Akt: Sieh herab auf deine Kinder, und ihre Verwirrung, ihr Elend! … Stärke mich! – Und kann der Knoten gelöst werden; – heiliger Gott im Himmel! zerreiß ihn nicht! Cezilie. [. . . ] Wir sind nun wohl sehr verworren; sollte das nicht zu lösen seyn? Ich hab viel gelitten, und drum nichts von gewaltsamem Entschliessen. Vernimmst du mich, Fernando? – Fernando. Ich höre! Cezilie. Nimm’s zu Herzen!

1. Handlungsalternativen zwischen den Figuren: Möglichkeit a: Cezilie und ihre Tochter Luzie reisen heimlich

1. Handlungsalternativen zwischen den Figuren: Möglichkeit a: Cezilie und ihre Tochter Luzie reisen heimlich ab, entsagen und lassen Stella und Ferdinand zu neuem Eheglück allein. Möglichkeit b: Fernando geht mit Cezilie und Luzie fort, Stella bleibt allein zurück. Möglichkeit c: Stella will sterben (angedeutet). Möglichkeit d: Fernando will sterben (Selbstmord nur durch das Eintreten Cezilies verhindert). 2. Handlungsalternativen in einer Figur: Möglichkeit a: Cezilie verlässt Fernando (Variante von Option 1 a – mit dem Unterschied, dass sie im brieflich-empfindsamen Austausch mit ihm bleiben will). Möglichkeit b: Cezilie bleibt mit Fernando zusammen, weil es Stella guttun wird, im Bewusstsein der guten Tat einsam zu bleiben (Variante von Option 1 b – mit dem Unterschied, daß Cezilie diese Möglichkeit offen erwägt, nicht als heimliche Intrige plant).

3. Handlungsalternativen im Gespräch – und in der Literatur: Cezilie eröffnet das Gespräch mit

3. Handlungsalternativen im Gespräch – und in der Literatur: Cezilie eröffnet das Gespräch mit einem sich selbst reflektierenden lauten Nachdenken: „Wenn ich aber nun wieder so denke: warum soll sie [Stella] denn eingemauert sein? . . . “ „Es war einmal. . . “: die Geschichte des Grafen von Gleichen.

Zur ersten Frau kam nun geschwind Joh. Fr. Löwen 1771 Der Graf mit seiner

Zur ersten Frau kam nun geschwind Joh. Fr. Löwen 1771 Der Graf mit seiner zwoten, Der, und man weis, wie Weiber sind, List, Gift und Dolche drohten. Doch, Wunder! wie erklärt man dich! Die beyden Weiber liebten sich. Sie theilten, Beyspiel seltner Zeit! Wenn es doch Folgen hätte! Sie theilten ihre Zärtlichkeit Gern mit des Grafen Bette. Dieß Bett, durch solch ein Wunder groß, Steht noch zu Gleichen auf dem Schloß. Weil alles stirbt; so starben auch Der Graf und seine Weiber; Ein Grab umschloß nach altem Brauch Die drey entseelten Leiber. Dieß alles, sammt des Grafen Ruhm, Lehr Erfurts Epitaphium.

„Da fährt mir ein Gedanke durch den Kopf – Wir wollen einander das seyn,

„Da fährt mir ein Gedanke durch den Kopf – Wir wollen einander das seyn, was sie [die Männer] uns hätten werden sollen! Wir wollen zusammen bleiben –! Ihre Hand! – Von diesem Augenblick an laß ich Sie nicht!“ „Eine Wohnung, Ein Bett, und Ein Grab“!