Kanton St Gallen Bildungsdepartement Rechtliche Mglichkeiten und Schranken

Kanton St. Gallen Bildungsdepartement Rechtliche Möglichkeiten und Schranken bei religiös motivierter Verweigerung im Schulalltag Fachtagung für Personen aus dem Schulbereich sowie der Kinder- und Jugendarbeit 24. März 2018 MLaw Heidi Roth, Leiterin Recht Bildungsdepartement

Grundlagen • Art. 7 BV: Menschenwürde • Art. 9 BV: Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben • Art. 10 BV: Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit • Art. 15 BV: Glaubens- und Gewissensfreiheit • Art. 19 BV: Anspruch auf Grundschulunterricht • Art. 62 BV: Schulwesen • Kantonale Zuständigkeit • Schulobligatorium • Art. 72 BV: Kirche und Staat • Kantonale Zuständigkeit für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat 24. März 2018 Seite 2 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Bildungsauftrag Die Volksschule erfüllt ihren Bildungsauftrag gemäss Grundrechten und kantonalem Volksschulgesetz und orientiert sich an folgenden Werten: • • • Sie geht von christlichen, humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen aus. Sie ist in Bezug auf Politik, Religionen und Konfessionen neutral. Sie fördert die Chancengleichheit. Sie fördert die Gleichstellung der Geschlechter. Sie wendet sich gegen alle Formen der Diskriminierung. Sie weckt und fördert das Verständnis für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und die Erhaltung der natürlichen Umwelt. Sie fördert den gegenseitigen Respekt im Zusammenleben mit anderen Menschen, insbesondere bezüglich Kulturen, Religionen und Lebensformen. Sie geht von unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen aus und geht konstruktiv mit Vielfalt um. Sie trägt in einer pluralistischen Gesellschaft zum sozialen Zusammenhalt bei. Quelle: Lehrplan Volksschule, Grundlagen, S. 2 24. März 2018 Seite 3 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Religionsfreiheit, Art. 15 Bundesverfassung 1 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet. 2 Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen. 3 Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. 4 24. März 2018 Seite 4 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Neutralität und Einschränkung • Der Grundsatz „Religiöse Neutralität des Staates“ wird aus der Religionsfreiheit abgeleitet • Einschränkung der Religionsfreiheit nach Art. 36 BV möglich Art. 36 BV: 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. 2 Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. 3 Einschränkungen 4 Der von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar. 24. März 2018 Seite 5 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Konkretisierung des Anspruchs auf ausreichenden Grundschulunterricht / SG Die kantonalgesetzlichen Bestimmungen regeln z. B. : • Schulpflicht: Beginn, Dauer • Schulorganisation: Schulträger, Schultypen, Behörden • Unterricht: Lehrplan, Lehrmittel, Unterrichtszeiten, Privatunterricht • Beurteilung: Zeugnis, Promotion und Übertritt • Sonderpädagogik: Fördermassnahmen, Sonderschulung • Schülerpflichten: Schulbesuch, Verhalten, Disziplinarmassnahmen • Lehrpersonen: Personalrecht, Rechte und Pflichten • Eltern: Mitwirkungspflichten, Bussen 24. März 2018 Seite 6 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Schulobligatorium – Auswirkungen • Jedes in der Schweiz wohnhafte Kind besucht den Grundschulunterricht in einer öffentlichen Volksschule oder einer öffentlich anerkannten Privatschule • Pflicht des Staates zu religiös-neutralem Unterricht (Ableitung von Religionsfreiheit) • Sonderstatusverhältnis • Einschränkung von Grundrechten durch die Schule? 24. März 2018 Seite 7 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Grundlegendes Prinzip: religiöse Neutralität • Ne-uter: Keine Stellung nehmen (zum Vorteil einer Religion) • Konfliktlösungsprinzip, damit Einzelne nicht in ihren Glaubensansichten minorisiert werden, was weder eine areligiöse Einstellung des Staates noch eine absolute Gleichbehandlung bedeutet. Es handelt sich vielmehr um ein breites Konzept und eine Zielsetzung des Staates im Verhältnis zu den verschiedenen Religionen. • Traditionen sind erlaubt und wünschenswert, z. B. in dem christliche Feiertage in den Schulkalender integriert werden. • Die Schule kann nicht den Inhalt des Religionsunterrichtes systematisch auf eine Religion ausrichten. 24. März 2018 Seite 8 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Religionsunterricht Ethik, Religionen, Gemeinschaft • Unterricht über Religionen und konfessioneller Religionsunterricht • Lehrplan 21: Natur, Mensch, Gesellschaft – Kompetenzaufbau « Ethik, Religionen, Gemeinschaft » : • Existentielle Grunderfahrungen reflektieren • Werte und Normen klären und Entscheidungen verantworten • Sich mit Religionen und Weltsichten auseinandersetzen • Ich und die Gemeinschaft - Leben und Zusammenleben gestalten • ERG. 3: « Die Schülerinnen und Schüler können Spuren und Einfluss von Religionen in Kulturen und Gesellschaft erkennen. » • ERG. 3. 2: « Die Schülerinnen und Schüler erkunden eine soziale oder kulturelle Einrichtung (z. B. gemeinnützige Einrichtung, Schule, Friedhof, Kloster, Veranstaltung) und können anhand deren Geschichte den religiösen Hintergrund erkennen. » 24. März 2018 Seite 9 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Mitwirkungspflicht der Eltern Volksschulgesetz Kanton St. Gallen (s. GS 213. 1, abgekürzt VSG) Art. 96 bis 1 Die Eltern: a) stehen Lehrperson und Schule für Gespräche und weitere Kontakte zur Verfügung. Sie informieren über Kind und Familie, soweit es der Erziehungs- und Bildungsauftrag erfordert; b) unterstützen Lehrperson und Schule in Erziehung und Bildung sowie bei der Umsetzung schulischer Massnahmen. Art. 97* Ordnungsbusse 1 Eltern, die das Kind an der Erfüllung der Schulpflicht hindern oder nicht zum Schulbesuch oder zur Befolgung von Anordnungen nach Art. 34 dieses Gesetzes anhalten, werden vom Schulrat verwarnt oder gebüsst. Die Ordnungsbusse beträgt je versäumter Schulhalbtag wenigstens Fr. 200. –, insgesamt höchstens Fr. 1000. –. In schweren Fällen erstattet der Schulrat Strafanzeige. 2 Eltern, die ihre Mitwirkungspflicht erheblich verletzen, werden vom Schulrat verwarnt oder gebüsst. Die Ordnungsbusse beträgt Fr. 200. – bis Fr. 1000. –. 24. März 2018 Seite 10 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Verhalten und Konsequenz Volksschulgesetz Kanton St. Gallen Verhalten Art. 54 Grundsatz 1 Die Schülerin oder Schüler hat sich in Schule und Öffentlichkeit anständig und rücksichtsvoll zu verhalten. Art. 55* Disziplinarmassnahmen 1 Gegen Schülerinnen und Schüler, deren Verhalten zu Beanstandungen Anlass gibt, können ein auswärtiger Schulbesuch oder andere erzieherisch sinnvolle Disziplinarmassnahmen angeordnet werden. 2 Als schwerste Massnahme kann der Schulrat den Ausschluss von der Schule verfügen. Vorbehalten bleibt der Besuch der besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätte. 24. März 2018 Seite 11 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Verhalten und Massnahmen Verordnung über den Volksschulunterricht (s. GS 213. 12, abgekürzt VUU) Disziplinarordnung Art. 12* a) allgemein Disziplinarmassnahmen des Lehrers 1 Der Lehrer kann als Disziplinarmassnahmen verfügen: a) zusätzliche Hausaufgaben oder Arbeit in der Schule ausserhalb der Unterrichtszeit; b) Wegweisen aus der Lektion oder aus der besonderen Veranstaltung; c) Ausschluss von einer besonderen Veranstaltung, die nicht länger als einen Tag dauert; d) schriftliche Beanstandung an die Eltern mit Kopie an den Schulrat. Die Beanstandung kann mit Zustimmung des Schulrates im Zeugnis angemerkt werden. Art. 12 bis* b) Ausschluss vom Unterricht 1 Der Klassenlehrer kann als Disziplinarmassnahmen verfügen: a) Ausschluss vom Unterricht für den laufenden Tag; b) mit Zustimmung des Präsidenten des Schulrates Ausschluss vom Unterricht bis drei Tage, längstens bis zum Wochenende. 2 Er erstattet dem Schulrat einen schriftlichen Bericht. 24. März 2018 Seite 12 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Verhalten und Massnahmen Art. 13* Disziplinarmassnahmen des Schulrates 1 Der Schulrat kann als Disziplinarmassnahmen verfügen: a) schriftliche Beanstandung an die Eltern auf Antrag des Lehrers. Er kann anordnen, dass die Beanstandung im Zeugnis angemerkt wird; b) Ausschluss von einer mehrtägigen besonderen Veranstaltung; bbis) Ausschluss vom Unterricht bis drei Wochen. Er kann den Schüler sinnvoll beschäftigen lassen; c) Androhung des Ausschlusses von der Schule; d) Ausschluss von der Schule mit Benachrichtigung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und des Bildungsdepartementes. 2 Anstelle einer Disziplinarmassnahme kann er den Schüler einer Kleinklasse mit einer beschränkten Aufenthaltszeit zuweisen. Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des Volksschulgesetzes vom 13. Januar 198311 über die Zuweisung zur Kleinklasse. 24. März 2018 Seite 13 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Abwesenheiten Abwesenheit Art. 16 Grundsätze 1 Voraussehbare Abwesenheit bedarf der vorgängigen Bewilligung. Vorbehalten bleibt die Befreiung vom Unterricht nach Art. 96 Abs. 2 des Volksschulgesetzes. 13 ( «Joker-Tage» ) 2 Nicht voraussehbare Abwesenheit ist durch die Eltern nachträglich zu begründen. 3 Der Schulrat regelt das Verfahren für: a) vorgängige Bewilligung von Abwesenheit; b) Befreiung vom Unterricht nach Art. 96 Abs. 2 des Volksschulgesetzes; 14 c) nachträgliche Begründung nicht voraussehbarer Abwesenheit. Art. 18 Besondere Fälle 1 Die Eltern können den Schüler durch schriftliche Erklärung an die kirchliche Stelle vom Religionsunterricht abmelden. 2 Der Erziehungsrat regelt die Freistellung der fremdsprachigen Schüler für Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur. 24. März 2018 Seite 14 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Exkurs: Kanton Zürich Volksschulgesetz Kanton Zürich (412. 100, abgekürzt VSG) § 52. 1 Können disziplinarische Schwierigkeiten nicht durch die Lehrperson in der Klasse gelöst werden, können folgende Massnahmenangeordnet werden: a. durch die Schulleitung 1. Aussprache, 2. Schriftlicher Verweis, 3. Versetzung in eine andere Klasse. b. durch die Schulpflege 1. Wegweisung vom fakultativen Unterricht, wenn das fehlbare Verhalten damit im Zusammenhang steht, 2. Vorübergehende Wegweisung vom obligatorischen Unterricht bis höchstens vier Wochen, 3. Versetzung in eine andere Schule, 4. Entlassung aus der Schulpflicht im letzten Schuljahr. 2 Bei einer vorübergehenden Wegweisung vom Unterricht werden die Eltern frühzeitig informiert. Wird eine Schülerin oder ein Schüler aus der Schulpflicht entlassen, leitet die Schulpflege die notwendigen Begleitmassnahmen ein. 24. März 2018 Seite 15 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Exkurs: Kanton Zürich Volksschulverordnung (412. 101, abgekürzt VSV) § 56. 1 Können Schwierigkeiten mit Schülerinnen und Schülern nicht im Gespräch oder durch Anweisungen im Rahmen des Unterrichts gelöst werden, kann die Lehrperson Schülerinnen und Schüler a. für kurze Zeit aus dem Schulzimmer weisen, b. mit einer sinnvollen, möglichst im Zusammenhang mit der Verfehlung stehenden Zusatzarbeit betrauen, c. nach Mitteilung an die Eltern und bei Anwesenheit einer Lehrperson während der unterrichtsfreien Zeit zur Anwesenheit in der Schule verpflichten. Erfolgt keine Besserung oder hat sich eine Schülerin oder ein Schüler eine schwere Disziplinarverfehlung zuschulden kommen lassen, orientiert die Lehrperson die Schulleitung. Diese prüft eine Massnahme nach § 52 Abs. 1 lit. a VSG, oder sie orientiert die Schulpflege und beantragt dieser eine Massnahme nach § 52 Abs. 1 lit. b VSG. 2 3 Disziplinarmassnahmen werden unter Berücksichtigung des Alters der Schülerinnen und Schüler und der Umstände des Einzelfalls festgelegt. 24. März 2018 Seite 16 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Kompetenzen oder Konflikte – Auftrag und Schranken Zivilrecht Elterliche Sorge (301 ff. ZGB) Schulrecht Erziehungsund Bildungsauftrag (Art. 3 VSG) 24. März 2018 Seite 17 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Straftatbestand Schweizerisches Strafgesetzbuch (SR 311. 0, abgekürzt St. GB) Art. 219 Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer minderjährigen Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. 1 2 Handelt der Täter fahrlässig, so kann statt auf Freiheitsstrafe oder Geldstrafe auf Busse erkannt werden. 24. März 2018 Seite 18 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

7. Juni 2021 Seite 19 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Schwimmunterricht Die Eltern schicken ihre 9 -jährige Tochter unter Hinweis auf die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit nicht in den Schwimmunterricht. Sie werden von der Schule gebüsst. Religionsfreiheit vs. Integrationsgedanke BGE 135 I 79 «Seit dem Entscheid des Bundesgerichts im Jahre 1993 haben die bereits in jenem Entscheid berücksichtigten wichtigen Integrationsanliegen in der Öffentlichkeit noch vermehrtes Gewicht erhalten. » «Von Ausländern darf und muss erwartet werden, dass sie zum Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung bereit sind und die schweizerische Rechtsordnung mit ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen - die der Staat auch gegenüber kulturell begründeten abweichenden Ansprüchen zu bewahren hat - sowie die hiesigen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten akzeptieren (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, BBl 2002 3714, 3797 ff. ). » Das Vorgehen würde geschützt. 24. März 2018 Seite 20 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Sexualkundeunterricht Die Eltern stellen der Schule das Gesuch, ihr 11 -jähriger Sohn sei vom Sexualkundeunterricht zu dispensieren. Sie führen religiöse Gründe an. Input: BGE: Elterliche Sorge vs. Bildungsauftrag Ist das Vermitteln von sexueller Aufklärung eine «höchstpersönliche» Angelegenheit, welche die Eltern für sich in Anspruch nehmen dürfen? Entscheid 2 C_132/2014 «Die verweigerten Dispensationen der Beschwerdeführer vom beanstandeten Unterricht werden somit von der Glaubens- und Gewissensfreiheit erfasst. » «Zunächst sind die Prävention vor sexuellen Übergriffen sowie der Schutz der Gesundheit unbestrittenermassen relevante öffentliche Interessen. Weiter dient das Obligatorium des Schulbesuches der Wahrung der Chancengleichheit aller Kinder und darüber hinaus auch derjenigen zwischen den Geschlechtern bzw. der Gleichstellung von Mann und Frau in der (Aus-) Bildung; es fördert zudem die Integration von Angehörigen anderer Länder, Kulturen und Religionen und ist somit von gewichtigem öffentlichen Interesse. Diese Überlegungen gelten sinngemäss auch für den beanstandeten Sexualkundeunterricht; sie sind angesichts des Alters der betroffenen Kinder jedoch etwas zu relativieren. » Sie dürfen die Kinder zum Sexualkundeunterricht aufbieten. 24. März 2018 Seite 21 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Teilnahme an Klassenlagern Die Eltern ersuchen die Schule, ihre Tochter von der Teilnahme am obligatorischen Klassenlager zu dispensieren. Sie machen geltend, ihre Religion verbiete es der Tochter, ohne männliche Begleitung aus der Familie ausserhalb der elterlichen Wohnung zu übernachten. Prüfung im Rahmen eines Dispensgesuches: • Schülerinnen und Schüler haben nicht nur ein verfassungsmässiges Recht, sondern auch die Pflicht, den Grundschulunterricht zu besuchen (Art. 19 und 62 BV). Der Schulrat kann im Sinn von 17 bis des Volksschulgesetzes (s. GS 213. 1, abgekürzt VSG) besondere Veranstaltungen als Bestandteil des obligatorischen Unterrichts anordnen. Gemäss Art. 17 bis Bst. b VSG kann er Schülerinnen und Schüler aus wichtigen Gründen von der Teilnahme solcher Veranstaltungen befreien. «Wichtiger Grund» : • Interessen des Kindes: Persönlichkeitsrechte, Glaubensfreiheit • Interessen der Schule: Schulpflicht, Chancengleichheit, Gleichstellung von Mann und Frau Mit Blick auf Integration und die ergangenen soziokulturellen Veränderungen dürften Sie den Schüler oder die Schülerin zur Teilnahme verpflichten. 24. März 2018 Seite 22 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Händedruck Der Schüler A. weigert sich aus religiösen Gründen, einer Lehrerin zur Begrüssung die Hand zu geben. Die Schule verpflichtet ihn im Sinn einer Disziplinarmassnahme zu 3 Tagen gemeinnütziger Arbeit. Fall Therwil: Zwei Schüler verweigern der Lehrerin den Handschlag, grüssen sie jedoch mit respektvollem Kopfnicken. Die Schulleitung handelt einen Kompromiss mit Schülern aus, wonach die beiden Schüler alle Lehrpersonen nur noch mit Kopfnicken begrüssen sollen. Das zuständige kantonale Departement klärt ab, inwiefern die allgemeine Anstandsregel rechtlich eingefordert werden kann. Das Ergebnis ist, dass mit der rechtlichen Verpflichtung zwar in die Religionsfreiheit eingegriffen wird, allerdings in zulässiger Weise. Die Interessen an Integration von Ausländern und betreffend Geschlechtergleichstellung würden überwiegen. Die Eltern erheben gegen die erfolgten Disziplinarmassnahmen zweitinstanzlich Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft. Dieser weisst die Beschwerde hinsichtlich des Handschlages ab. Sie dürften den Schüler oder die Schülerin zum Händedruck «zwingen» – wobei die Sinnhaftigkeit in Frage gestellt würde. Könnten «soft skills» (Kulturvermittlung) zielführender sein? 24. März 2018 Seite 23 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Muslimischer Kindergarten Ein Verein beantragt im Kanton Zürich eine Privatschulbewilligung für einen islamischen Kindergarten. Das Volksschulamt lehnt das Gesuch mit der Begründung ab, der Arabisch- und Koranunterricht beanspruche im Konzept des Vereins zu viel Raum. Ein ausreichender Grundschulunterricht sei damit nicht gewährleistet. Auch sei keine Differenzierung zwischen religiösen und weltlichen Inhalten bei der Unterrichtsgestaltung erkennbar. Bundesgerichtsurteil 2 C_807/2015 vom 18. Oktober 2016 • Die verfassungsmässige Privatschulfreiheit verbietet es, Privatschulträger zu einem weltanschaulich oder religiös neutralen Unterricht zu verpflichten. Diese haben mit Blick auf die Privatschulfreiheit vielmehr das Recht, Schwerpunkte inhaltlicher, pädagogischer, weltanschaulicher, religiöser oder konfessioneller Art zu setzen. • Eine Bewilligung kann aber verweigert werden, wenn die Privatschule keinen ausreichenden Grundschulunterricht im Sinn der Bundesverfassung gewährleistet. Auch Schülerinnen und Schüler an Privatschulen haben den verfassungsmässigen Anspruch, dort in ihrer Leistung, Persönlichkeitsentwicklung sowie körperlichen und seelischen Entwicklung in einer Weise gefördert zu werden, die mit einer Volksschulbildung vergleichbar ist. 24. März 2018 Seite 24 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Religiöse Symbole in der Schule • BGE 123 I 296: Verbot des Kopftuchtragens durch eine Lehrerin, weil dies die Schüler beeinflussen könnte (Genf). • BGE 139 I 280 (Fall Bürglen/TG): Verbot des Kopftuchtragens zweier Schülerinnen ist unzulässig. Es braucht ein Gesetz im formellen Sinn. Ein Schulreglement als gesetzliche Grundlage genügt demnach nicht. • BGE 142 1 49 (Fall St. Margrethen/SG) : Verbot des Kopftuchtragens gegenüber einer muslimischen Schülerin war nicht verhältnismässig - unzulässiger Eingriff in die Glaubensfreiheit. • BGE 116 Ia 252: Das Anbringen eines Kruzifixes in den Schulzimmern einer Primarschule steht der Religionsneutralität der Schule entgegen (Cadro). 24. März 2018 Seite 25 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Praxisbeispiele Gewisse Aktivitäten werden im Hinblick auf die Sozialisierung und die Integration höher gewertet, weswegen keine Dispensen erteilt werden. Der Integrationsgedanke hat die Rechtsprechung verändert: • BGE 114 Ia 129 (1988): Schuldispensation für Laubhüttenfest der Weltweiten Kirche Gottes. Das Bundesgericht schützte das Begehren der Eltern. • BGE 117 Ia 311 (1991): Enthaltung weltlicher Betätigung am Samstag für Mitglieder Weltweiten Kirche Gottes, deswegen Dispens von Prüfungen am besagten Tag. Das Bundesgericht schütze die Eltern. • Entscheid 2 C_724/2011: Keine Dispens für Unterricht, in dem religiöse Lieder gesungen und religiöse Stätten besucht werden • Entscheid 2 C_897/2012: Keine Dispens für Unterricht im Kindergarten, in dem Yoga-Übungen unternommen werden 24. März 2018 Seite 26 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Zusammenfassung – Recht und Schranken Grundsätzlich: Die Gesetze legen die Basis. Die Rechtsprechung wendet an und gibt konkrete Antworten. Die Rechtsprechung kann sich ändern. Besprechen Sie Ihr Vorgehen im Team und suchen Sie Beratung. Möglichkeiten der Schule: zusätzlich 1. Klärung der Frage: Wie ist die Rechtslage, was dürfen Sie? 2. Disziplinarmassnahmen (Folie 12, 13), abschliessend! 3. Eventuell Prüfung von «soft skills» (Kulturvermittlung, Schulsozialarbeit) • • • Schranke: • • Prämissen: 24. März 2018 Seite 27 Strafanzeige bei mutmasslicher Verletzung der Fürsorgepflicht? Anzeige bei der Jugendanwaltschaft bei Verdacht auf extremistischen Hintergrund? Gefährdungsmeldung bei der KESB? Grundrechte (Folie 2) Konflikt mit der elterlichen Sorge (Folie 17) Integration, soziokulturelle Veränderungen Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Ausblick – künftige Regelungen im Kanton SG Gesetzesentwurf (XIX. Nachtrag zum Volksschulgesetz) Art. 54 bis (neu) Bekleidung 1 Die Schülerin oder Schüler hat sich in der Schule korrekt zu kleiden. Sie oder er verzichtet auf eine Bekleidung, die den ungestörten Unterricht oder den Schulfrieden gefährdet. 2 Der Erziehungsrat erlässt nähere Vorschriften zur Bekleidung in der Schule. Der Schulrat kann in der Schulordnung oder in einem anderen Reglement ergänzende Vorschriften erlassen. 3 • Bericht « Bedeutung der Grundrechte und deren Einschränkung im Zusammenhang mit Schulbesuch, Bekleidungsvorschriften und Vermummungsverbot » der Regierung • Entwurf eines Nachtrags zum Volksschulgesetz • Botschaft und Entwurf sind auffindbar unter: www. ratsinfo. sg. ch → Geschäftssuche → « KR Bericht 40. 17. 03» 24. März 2018 Seite 28 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Ausblick Gesetzesentwurf (XIX. Nachtrag zum Volksschulgesetz) Art. 92 Zusammenarbeit a) Schule und Eltern arbeiten in Erziehung und Ausbildung zusammen. Sie richten ihr Verhalten auf die Wahrung des Schulfriedens und des ungestörten Unterrichts aus. 1 Art. 96 bis 1 Mitwirkungspflicht Die Eltern: c) halten das Kind zur Wahrung des Schulfriedens und zu korrekter Bekleidung nach Art. 54 bis dieses Erlasses an. 24. März 2018 Seite 29 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement
![Ausblick Gesetzesentwurf (XIX. Nachtrag zum Volksschulgesetz) Art. 49 bis (neu) [Schulpflicht] Inhalt 1 Die Ausblick Gesetzesentwurf (XIX. Nachtrag zum Volksschulgesetz) Art. 49 bis (neu) [Schulpflicht] Inhalt 1 Die](http://slidetodoc.com/presentation_image_h2/5e18355ce3d76e2ee1183ee91d7a1fbc/image-30.jpg)
Ausblick Gesetzesentwurf (XIX. Nachtrag zum Volksschulgesetz) Art. 49 bis (neu) [Schulpflicht] Inhalt 1 Die Schülerin oder Schüler besucht alle obligatorischen Fächer und Unterrichtsveranstaltungen. Vorbehalten bleibt eine Dispensation aus wichtigem Grund im Einzelfall. Sie ist nur zulässig, soweit die Schülerin oder Schüler dennoch einen ausreichenden Grundschulunterricht erhält. 24. März 2018 Seite 30 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement

Rechtsdienst Bildungsdepartement . . & für alle noch unbeantworteten Fragen. . Dienst für Recht und Personal Bildungsdepartement Kanton St. Gallen Davidstrasse 31 9000 St. Gallen • Allgemeine Auskünfte Heidi Roth, 058 229 32 80 • Fragen in Zusammenhang mit Mutterschaft Daniela Cadosch, 058 229 37 78 Herzlichen Dank Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! 24. März 2018 Seite 31 Kanton St. Gallen Bildungsdepartement
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