Die Semantisierung von Artefakten Materielle Kultur und Imagination
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Die Semantisierung von Artefakten Materielle Kultur und Imagination Martin Siefkes Università IUAV di Venezia
Imagination im Alltag • Mediendiskurse: Realität ↔ Virtualität • Virtualität: durch Zeichen konstruierte Welt • Tägliche Lebenswelt: beides untrennbar • Alltagswelt: bestimmt durch Artefakte • Erforscht wurden vor allem (1) Funktion (2) Form/Material • Diese Aspekte entsprechen (1) der Orientierung des Alltags auf Handlungen (2) Form/Material: Ästhetik im trad. Sinn (bis ca. 1960)
Materielle Kultur • Artefakte: Menschengemachte Dinge (materiell und nicht-materiell) • Definition [R. Posner]: Folgen absichtlicher Handlungen (absichtliche und nicht-absichtliche) • Materielle Kultur: (1) materiell (nicht Musik, Texte, Software) (2) hergestellt (absichtlich erzeugt)
Prinzipien der Semantisierung • Herstellungsweise der Verbindung zu einem Zeicheninhalt → verschiedene Entstehungsweisen → verschiedene Zeicheninhalts-Typen • dynamische Sichtweise statt fester „Zeichentypen“
(1) Funktion / Frame-Bezug Frame SEGELN Rollen: Kapitän, Segler, Gäste … Persönlichkeitsattribute für Rollen: sportlich, wohlhabend‚ aktiv, … Handlungsmuster: Segeln, Entspannen, … Artefakte: Segelboot, Equipment, Spezialkleidung, … Bedingungen: Meer/See, starke Winde, wechselndes Wetter, … Gefühle: Freiheit, Naturerlebnis, Neues sehen, Souveränität, … Bezug auf einen anderen Frame: Frame SKATEBOARDEN Zeicheninhalte: ‚mit dem Frame assoziierter Lifestyle‘; ‚stylisch‘
(2) Stil • Nicht durch Artefakttyp (Schema) vorgegebene Eigenschaften • Unterschiede zu Artefakten desselben Typs erzeugen Zeicheninhalte • Abweichungen: besonders aufwendig → ‚ästhetischer Anspruch‘ besonders teuer → ‚Luxus‘
(3) Form als Zeichen • Ikonische Bezüge • Diskontinuitäten [Krippendorff] • Affordanzen
(4) Individuelle Erfahrungen • Erinnerungen an Menschen und Situationen • relevante Entscheidungen • ‚früheres Selbst‘ (frühere Wohnung, Hobbys)
(5) Kulturelle Verwendung • Verwendung in Büchern, Filmen etc. z. B. Kettensäge → ‚Texas Chainsaw Massacre‘ • bei größerer Bekanntheit des Werks auch ohne persönliche Kenntnis • Kann Alltagsbedeutungen bei selten genutzten Artefakten überlagern
(6) Soziale Bezüge • Verbindung zu Gruppen / Lebensstilen – Bierdose → ‚Unterschicht‘; ‚Trinker‘ – Bierflasche → ‚Studenten‘; ‚Party‘ – Bier vom Fass → ‚Bürger‘; ‚Feierabend‘ • Verbindungen zu Berufen – Presslufthammer → ‚Bauarbeiter‘
(7) Besondere Kontexte • Museum: – Repräsentation (bestimmter Aspekte) einer Kultur – Ungewöhnliches (Techniken, Formen …) • Sammler: – Seltenheit (auf dem Markt) – Vollständigkeit (der Sammlung)
Beispiel 1: Artefakttyp „Konservendose“ • Aspekte, die Funktion anzeigen (z. B. Lasche → ‚hier Aufreißen‘; Flansch → ‚stapelbar‘) • Bezüge zu Hersteller, Zeit, hist. Kontext • Konnotationen: ‚Haltbarkeit‘, ‚Wegwerfkultur‘, ‚Müllberge‘ • Verwendung in kulturellen Werken: z. B. Andy Warhol
Beispiel 1: Artefakttyp „Konservendose“ • Kulturelle Praktiken: z. B. ‚Büchsenwerfen‘ (Jahrmarkt) • typische Nutzungen (z. B. ‚Bunkern‘ von Grundnahrungsmitteln) • Nutzergruppen: ‚nicht auf Ernährung Achtende‘, ‚Forschungsexpeditionen‘ • Vorurteile: ‚Büchsenbier = Proletenkultur‘ • Wertungen: früher ‚fortschrittlich, gesunde Aufbewahrung‘, heute ‚ungesundes Essen‘
Beispiel 2: Artefakt „Muller frères-Lampe“ • Aspekte, die Funktion anzeigen (z. B. Anbringungsweise; angestrebte Lichtausbeute und Lichtrichtungen) • Repräsentative Funktion (z. B. durch aufwendige Gestaltung, teure Materialien, Ausdruck von ‚Geschmack‘) • Bezüge zu Hersteller, Zeit, hist. Kontext • Schule, Techniken, ästhet. Prinzipien • Typische Käufer(-gruppen) • saliente Eigenschaften → Gegenstandsklassen (z. B. ‚teure Gegenstände‘, ‚Luxus‘)
Beispiel 2: Artefakt „Muller frères-Lampe“ • abstrakte Formprinzipien: Kombination geometrischer Grundkörper • Dadurch: Bezug zu Epochen (Moderne) • Ausdruck abstrakter Prinzipien: z. B. Betonung der Gegensätzlichkeit zwischen Materialien ⇒ Interpretation
Beispiel 2: Zeichentypen • • Ikonische Aspekte der Form: z. B. Bezug auf Würfel, Kutscherlaterne (? ) Indexikalisch: Bezüge zu Hersteller, Zeit, hist. Kontext, Schule, Techniken tw. indexikalisch, tw. symbolisch: z. B. Assoziation mit bestimmten Gruppen, etwa ‚Bürgertum‘ Kommunikative Zeichen: kann dem Artefakt zusammen mit seiner Präsentation zukommen, z. B. kann ‚Geschmack-Haben‘, ‚Es-sich-leisten-Können‘ usw. kommuniziert werden saliente Eigenschaften → ‚[Klasse der Artefakte mit dieser Eigenschaft]‘, z. B. ‚teure Gegenstände‘, ‚Luxus‘ Abstrakte Prinzipien der Form: Hier: Kombination verschiedener geometrischer Grundkörper (Würfel; Kegelstumpf; auf die Spitze gestellte Pyramide) Erkennbarkeit von Regeln: z. B. Stilisierungsweisen (‚Art deco‘)
Formale Darstellung Prinzip „Verbindung mit einer Gruppe“ ∃x∃y∃A (Artefakttyp (x) ∧ Person (y) ∧ Gruppe (A) ∧ (verwenden (y, x) →w>s (y ∊ A))) x [bewirken] A Beispiel: Der Artefakttyp x = ‚Kapuzenpulli‘ evoziert die soziale Gruppe A = ‚Hip-Hop-Subkultur‘, da seine Träger auffällig häufig dieser Subkultur angehören (w: Wahrscheinlichkeit, s: Salienzschwelle)
Formale Darstellung Prinzip „Kulturelle Verwendung“ ∃x∃y∃p (Artefakt (x) ∧ Werk (y) ∧ Rolle_in (x, y) ∧ Verwendungssituation (p, x, y)) [bewirken] x y, p Beispiel: Ein Artefakt x = ‚Visitenkarte‘ evoziert den Film y ‚American Psycho‘ und die Verwendungssituation p = ‚Konkurrenz der Visitenkarten‘ von x in y
Kulturelle Relevanz • zentral für die Kultur; wenig erforscht • Forschung fast nur speziell: – Designforschung: v. a. Stil, Formgebung – Inzwischen: Semantik (z. B. K. Krippendorff, W. Muller, D. Norman) • Marketing: Wertungen, Lebensstile, Nutzergruppen
Artefakte als Umwelt • Menschen erzeugen ihre Umwelt teilweise selbst • Artefakte: übernehmen Anzeichenfunktionen der Umwelt (mnemonische und emotionale Funktion, Gruppenzusammenhalt, Revierkennzeichnung) • Zusätzlich: Zeichen höherer Ebenen (bis zur Kommunikation) • Tierarten: z. B. Nestdekoration als Ausdruck der Absicht guter Brutpflege
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