Die griechische Polis und das Versprechen direkter Demokratie

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Die griechische Polis und das Versprechen direkter Demokratie Recht und Politik im historischen Kontext

Die griechische Polis und das Versprechen direkter Demokratie Recht und Politik im historischen Kontext Prof. Dr. Jürgen Neyer BA Recht und Politik (mit Tutorium)/ BA Kulturwissenschaften WS 2017/ 18

Die griechische Polis • Zerklüftete Landschaft erschwert territoriale Konsolidierung von Herrschaft (Platon: „wie Frösche

Die griechische Polis • Zerklüftete Landschaft erschwert territoriale Konsolidierung von Herrschaft (Platon: „wie Frösche um einen Teich“) • Städtischer Siedlungskern mit umliegendem Land; ca 1500 weitgehend autonome Siedlungen vom Typ Polis (Athen, Theben, Sparta, . . . ) • wirtschaftliche Unabhängigkeit der Haushalte der einzelnen Bürger durch Eigentum an einer Parzelle Land (symmetrische Eigentumsverteilung) • Personenverband ohne klar definiertes Territorium • Handel über See

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Soziale und politische Inklusion

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Soziale und politische Inklusion zur Stabilisierung des Gemeinwesen / Reformen des Solon (594/3) v. Chr. : • wachsende Bevölkerung und intensivierter Handel führt zu sozialen Spannungen: – „Damals war der Gegensatz zwischen arm und reich so groß geworden, dass sich die Stadt in einer ho chst kritischen Lage befand. . . Das ganze niedere Volk war na mlich den Reichen verschuldet. . . Wer seiner Schulden wegen sich selbst verpfa ndet hatte, wurde von seinen Gla ubigern abgefu hrt und diente fortan entweder als Sklave oder wurde in die Fremde verkauft. Viele Eltern waren auch geno tigt, ihre Kinder zu verkaufen, denn kein Gesetz verbot das“ (Plutarch, Solon). – Stadt in existenzbedrohender Krise, offener Aufruhr, Hoplitenheer verliert sozio-ökonomische Basis, Solon wird als Archont zum Schlichter berufen

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Soziale und politische Inklusion

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Soziale und politische Inklusion zur Stabilisierung des Gemeinwesen / Reformen des Solon (594/3) v. Chr. : • Reformen zur Stabilisierung der inneren und äußeren Lage – Beseitigung der Schuldknechtschaft durch Schuldenannullierung, Rückkauf versklavter Athener, Ausschluss der Haftung mit dem Leib für die Zukunft, Begrenzung von Grundbesitz – Ämterzugang, militärische Dienstpflicht und Abgaben gestaffelt nach Vermögensklassen – Masse der ärmeren Kleinbauern und der Grundbesitzlosen (Theten) mit aktivem Stimmrecht an Abstimmungen in Volksversammlung und im Volksgericht beteiligt – Einführung von Appellationsgericht gegen Zwangsmaßnahmen der Beamten (Entmachtung des Areopags) – Rat der 400 als legislatives Gremium

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Reformen des Kleisthenes und

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Reformen des Kleisthenes und Ephialtes (460 - 507 v. Chr. ): Bedrohung durch Sparta • Reformen mit dem Ziel der Gemeinschaftsbildung – Auflösung der klientelistischen Stammesverbände und Organisation der Athener in sich selbstverwaltende lokale Einheiten (Demen) – Scherbengericht (Ostrakismus): Verbannung ohne Ehr- und Vermögensverlust – Archonten und andere Beamte incl Richter werden gelost und vereidigt – Isonomia („Gleichgewicht, Ebenbürtigkeit“) – Isegoria („gleiches Recht, gleiche Freiheit zu reden“)

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Das politische Erstarken der

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie Das politische Erstarken der Besitzlosen: Reformen des Perikles (490 – 429 v. C) • Kriege gegen Perser und peleponnesischer Krieg führen zu gestiegener Bedeutung der Theten (Ruderer) • Verleihung des allgemeinen passiven Wahlrechts • Finanzielle Kompensation für Teilnahme (halber Tagessold) • Übertragung weiterer politischer Kompetenzen vom Areopag auf Volksversammlung (nur noch Blutgericht)

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie GINI-Koeffizient Kanada 1998 0,

Die Entstehung der athenischen Polis Von der Krise zur Demokratie GINI-Koeffizient Kanada 1998 0, 69 Athen 350 c. V 0, 71 Florenz 1427 0, 79 USA 1998 0, 79 England (frühes 20. Jh. ) 0, 95 Quelle: Ober, Josiah 2015: The Rise and Fall of Classical Greece, Princeton, S. 90

Blütephase der athenischen Demokratie • Politische Selbstverwaltung und Selbstregierung durch die freien männlichen Bürger:

Blütephase der athenischen Demokratie • Politische Selbstverwaltung und Selbstregierung durch die freien männlichen Bürger: alle zum Dienst als Schwerbewaffnete (Hopliten) fähigen begüterten Bürger haben aktives und passives Wahlrecht • Drei typische Staatsorgane: Volksversammlung (Pnyx), Rat und Magistraturen: – politische Aufgaben werden in Ratsgremien (bulé) vorberaten, – in Volksversammlung (ekklesía) mit der Mehrheit der Stimmen entschieden – und von jährlich wechselnden Beamten (Los- oder Wahlverfahren) ausgeführt • Streben nach innerer Unabhängigkeit durch eigene Gesetze (Autonomía) • Streben nach äußerer Unabhängigkeit durch Wehrhaftigkeit auf der Basis einer allgemeinen Wehrpflicht und Selbstausrüstung

Politische Grundelemente der athenischen Demokratie Losverfahren für die meisten Ämter (außer Strategen, Architekten und

Politische Grundelemente der athenischen Demokratie Losverfahren für die meisten Ämter (außer Strategen, Architekten und Bauaufseher, hohe Finanzbeamte, etc. ) Vorteile: • Gleichheit unter den Bürgern • Verhinderung von Machtkonzentration und Machtmißbrauch • Vermeidung von Korruption Nachteile: • Mangel an Bildung, Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit • Anfälligkeit für Fehlentscheidungen

Die dunkle Seite Athens: Sklavenhaltergesellschaft • Meiste Haushalte mindestens einen Sklaven, manche mehrere Tausend

Die dunkle Seite Athens: Sklavenhaltergesellschaft • Meiste Haushalte mindestens einen Sklaven, manche mehrere Tausend • Selbstverständlicher Bestandteil des Lebens (Minensklaven, Bordelle, Hauslehrer, Polizisten, Landarbeiter, . . ): „Diese Verbindung (die Sklaverei JN), sage ich, ist natürlich. Denn wenn von zwei Menschen der eine den nötigen Verstand hat, um Beschlüsse für die vorliegenden Angelegenheiten zu fassen, der andere die nötigen Leibeskräfte, um das Beschlossene auszuführen: so ist der erste, vermöge seiner Natur, der Herr und Regierende; und der zweite ist, nach der seinigen, der Knecht und Gehorchende unter beiden. Und diese natürliche Oberherrschaft ist dem Untertan ebenso nützlich wie dem Oberherrn“ (Aristoteles) • Volkszählung in Attika zwischen 317 und 307 v. Chr. : 21. 000 Bürger, 10. 000 niedergelassene Fremde (Metöken), 400. 000 Sklaven These vom Zusammenhang von athenischer Demokratie und Sklaverei: „verlangt stärkste Freiheit nach schlimmster Sklaverei“ (Egon Flaig)

Die dunkle Seite Athens: prozedural verkürztes Rechtssystem • Popularklage: jeder kann jeden verklagen, Abstimmung

Die dunkle Seite Athens: prozedural verkürztes Rechtssystem • Popularklage: jeder kann jeden verklagen, Abstimmung direkt nach Anhörung • Kläger müssen selbst auftreten, kein Staatsanwalt • Richter werden morgens aus 6000 Geschworenen ausgelost (201 – 501) • Keine Berufungsinstanz, kein Staatsanwalt (Volksgerichte) Tatbestände – keine substantielle Bestimmung von wesentlichen Straftatbeständen (was genau ist Gotteslästerung? ), Bewertung des Menschen und seiner Lebensführung, Auswirkung auf Gemeinschaft – Diebstahl, Vergewaltigung und Ehebruch als privatrechtliche Delikte – keine Menschenrechte als Abwehrrechte – keine klare Trennung zwischen privat und öffentlich

Die dunkle Seite Athens: Imperialismus „Wir nun wollen selbst nicht unter schönen Wendungen, dass

Die dunkle Seite Athens: Imperialismus „Wir nun wollen selbst nicht unter schönen Wendungen, dass uns die Herrschaft mit Recht gebühre, . . . oder dass wir uns jetzt an euch wegen erlittenen Unrechts rächen wollen, mit einer langen und unglaubhaften Rede kommen; wir erwarten aber andererseits auch von euch, dass ihr uns nicht mit solchen Redensarten zu bestimmen hofft. . . Sucht vielmehr entsprechend unserer beiderseitigen wahrhaften Überzeugung das Mögliche zu erreichen. Denn ihr wisst so gut wie wir, dass von Gerechtigkeit im Menschenmund nur dann die Rede ist, wenn man durch eine gleiche Gewalt im Zaum gehalten wird, und dass diejenigen, die Macht haben, auflegen, so viel sie können, und die Schwachen ihnen gehorchen müssen. “ Melierdialog, Thukydides

Athenische Selbstwahrnehmung Aus der Grabrede des Perikles „Während wir uns aber so in unserem

Athenische Selbstwahrnehmung Aus der Grabrede des Perikles „Während wir uns aber so in unserem persönlichen Verkehr nicht belästigen, enthalten wir uns in unserem öffentlichen Leben vornehmlich aus sittlicher Scheu jeder Übertretung der Gesetze und hören willig auf die jeweilige Obrigkeit und auf die Gesetze, und vornehmlich auf die unter ihnen, die zum Schutz der Unterdrückten bestimmt sind, so wie auf diejenigen, die, ohne schriftlich aufgezeichnet zu sein, in der öffentlichen Meinung Schande bringen. Wir unterscheiden uns aber auch in unseren Vorbereitungen auf den Krieg von unseren Gegnern. Wir öffnen nämlich allen den Zutritt zu unserer Stadt und suchen nicht gelegentlich durch Ausweisung von Fremden jemanden daran zu hindern, etwas zu lernen oder zu sehen, wovon, wenn es nicht verheimlicht wird, einer unserer Feinde Nutzen ziehen könnte; denn wir vertrauen weniger auf Vorbereitungen und Heimlichkeiten als auf unseren eigenen Mut im Augenblick des Kampfes. Thuk. 2, 34 -46, Grabrede des Perikles

Athenische Selbstwahrnehmung „Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit. Man pflegt nämlich zu behaupten,

Athenische Selbstwahrnehmung „Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit. Man pflegt nämlich zu behaupten, dass die Menschen nur in dieser Staatsform an der Freiheit teilhaben und man sagt, jede Demokratie würde danach streben. Und zur Freiheit gehört erstens, dass man abwechselnd regiert und regiert wird. . Zweitens gehört dazu, dass man leben kann wie man will. Sie sagen, dies eben sei die Leistung der Demokratie. Von da her kommt denn, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei. Da dies nun vorausgesetzt wird und dies die Regierungsform ist, so ergibt sich das Folgende als demokratisch: Alle Ämter werden von allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise über alle. Ferner werden die Ämter durchs Los besetzt, entweder alle oder doch jene, die nicht der Erfahrung und Kenntnisse bedürfen. Von der Vermögenseinschätzung hängen die Ämter entweder überhaupt nicht oder doch nur zu einem minimalen Grade ab. Keiner kann ein Amt zweimal bekleiden, oder es darf nur wenige Male in wenigen Fällen geschehen, abgesehen von den Kriegsämtern. Die Ämter sind alle kurzfristig, oder doch alle, bei denen es möglich ist. Richter sind alle, jeder kann es werden und sie richten über alles oder doch über das meiste. . . Die Volksversammlung entscheidet über alles, die Behörden dagegen über nichts oder nur ganz weniges“ Aristoteles, Politik, 6. Buch 1317

Neuzeitliche Rezeption der athenischen Demokratie. . . Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des

Neuzeitliche Rezeption der athenischen Demokratie. . . Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts • „Dieser Akt des Zusammenschlusses (Gesellschaftsvertrag, JN) schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen. [. . . ]

Moderne Rezeption der athenischen Demokratie. . . Hannah Arendt, Vita Activa „. . .

Moderne Rezeption der athenischen Demokratie. . . Hannah Arendt, Vita Activa „. . . so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte. “

Moderne Rezeption der athenischen Demokratie. . . Benjamin Barber, Strong Democracy • „Starke Demokratie

Moderne Rezeption der athenischen Demokratie. . . Benjamin Barber, Strong Democracy • „Starke Demokratie ist die Politik von Amateuren“. . . • Plädoyer für eine neue „Architektur des öffentlichen Raums“. Demokratische Partizipation durch landesweite „Nachbarschaftsversammlungen“ (je aus ca. 1. 000 bis 5. 000 Bürger) mit legislativen Kompetenzen auf kommunaler Ebene

Klausur • Was waren/sind Grundstrukturen rechtlicher und politischer Ordnung? • Was waren/ sind ihre

Klausur • Was waren/sind Grundstrukturen rechtlicher und politischer Ordnung? • Was waren/ sind ihre Stärken und Schwächen? • Wie wurden sie begründet? • Was können wir für heutiges Handeln aus der Geschichte lernen?

Multimedia Eine ganz unterhaltsame, umfassende und weitgehend korrekte Darstellung des antiken Athens: http: //www.

Multimedia Eine ganz unterhaltsame, umfassende und weitgehend korrekte Darstellung des antiken Athens: http: //www. zdf. de/terra-x-grosse-voelker-griechen-kultur-erfindungen-geschichte-demokratie-mathematikolympiade-31924084. html 17: 20´ Es folgen politische Umwälzungen in Griechenland (Überleitung vom letzten Thema. Kurze Erklärung der Basisstruktur der Demokratie mit schauspielerischer Einlage. 19: 15´ “Man mag es kaum glauben, aber die Demokratie ist ein Produkt der Krise“ - es wird erklärt, wie Demokratie aus der Verteidigung der Stadtstaaten gegen Perser und andere Mächte entstanden ist. 20: 15´“Die Siege [gegen bedrohende Perser] haben entscheidende Nachwirkungen. Dafür, dass sie ständig ihr Leben für den Staat riskieren, fordern die Soldaten mehr Rechte. Allen voran die Männer aus den ärmeren Schichten. “ Folgt eine Beschreibung der Entstehung der Demokratie in Athen als Mitspracherecht aller. Die Herrschaft des Volkes wird erklärt, alle Männer können auf Volksversammlung mitbestimmen. 21: 41´ - 24: 00´ Kurze schauspielerische Nachstellung einer Abstimmung in Athen. 24: 00´ Beschreibung der Gesetzestafeln, Erlasse werden in Stein gemeißelt, Steuern werden erklärt 25: 35`Verteilung der politischen Ämter per Los und Erklärung des Losverfahrens („Losverfahren war das Grundprinzip der athenischen Demokratie“).