Vortrag Pfarrkonvent MnchenSd Mhlhausen 9 und 10 6
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Vortrag Pfarrkonvent München-Süd Mühlhausen 9. und 10. 6. 2019 Aufbruchs- und Wendebewegungen in den Kirchen und Basisgruppen der DDR, die Friedliche Revolution 1989 – Lernerfahrungen für heute 1. Einstiegsfrage: Wo stehen wir in den Umbruchs- und Aufbruchsbewegungen unserer Zeit? 2. Die „Missio Dei“ und die Entwicklung eines neuen Kirchenbewusstseins in der DDR 3. Entstehung und Wirken der christlichen Basisgruppen und der Konziliare Prozess in der DDR 4. Die Friedliche Revolution 1989 5. Die Nachwendezeit II. Lernerfahrung für heute – Fragen und Thesen 1
Bücherhinweis zum Thema: § Krusche Werner: Schritte und Markierungen. Ausätze und Vortrage zum Weg der Kirche; 1972 § Falcke, Heino: Mit Gott Schritte halten, Reden und Aufsätze eines Theologen in der DDR aus zwanzig Jahren; 1986 § Falcke, Heino: Wo bleibt die Freiheit? Christ sein in Zeiten der Wende, 2009; § Weizsäcker, Carl Friedrich von: Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung; 1986 § Raiser, Konrad: Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung; 1989 § Dokumentation Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden, Magdeburg, Dresden. Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD § Schmitthenner, Ulrich: Übereinstimmung und Anregung. Studienbuch für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Studienhaus IIS Frankfurt 1993 § Neubert, Ehrhart; Auerbach, Thomas: „Es kann anders werden. “ Opposition und Widerstand in Thüringen 1945 -1990; 2005 § Winkelmann, Bernd: „Damit neue Werde die Gestalt dieser Erde“. Politische Spiritualität im Umbruch unserer Zeit; 1997 § Winkelmann, Bernd: Die Friedliche Revolution 1989/90. Das Wirken christlicher Basisgruppen; 2009 § Winkelmann, Bernd: Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie; 2016 2
Paradoxie und Widersprüche unserer Kulturepoche: Einerseits Sieg der weltweiten kapitalistischen Wirtschaftsweise mit höchster Steigerung des Produktivitäten, extremes Wachsen der Geldvermögen, der Reichtümer, der wissenschaftichen Erkenntnisse, der technischen Fähigkeiten. . . Andererseits Zuspitzung globaler Probleme: extreme Spaltung von Arm und Reich, Ausgrenzung von Menschen, Zuspitzung der ökologischen Zerstörungen, internationaler Terrorismus; Migrationsströme, Rückfall in Nationalismus, Rückfall in neues Blockdenken, neues, auch atomares Wettrüsten. . . Zugleich Aufbegehren und Aufbrechen neuer Kräfte, die von neuen Visionen und Kräften leben, die eine grundlegende Wende unserer Zivilisation anstreben. Z. B. die Fridays for Future-Bewegungen, die Scientist for Future-Bewegung und Folgebewegungen. These: Wir könnten aus den Erfahrungen der Wendezeit und der friedlichen Revolution für eine mögliche Wendezeit heute lernen. 3
Die „Missio Dei“ und die Entwicklung eines neuen Kirchenbewusstseins in der DDR Werner Krusche zur „Missio dei“ Das Ziel der Mission Gottes ist nicht die weltumspannende Kirche, sondern der weltumspannenden Schalom, das heile und erfüllte menschliche Miteinander in einer versöhnten Gemeinschaft, die endgültige Zusammenführung aller Dinge in Christus (Eph. 1, 9 f. ) und damit die Verwirklichung des Schöpfungssinnes der Welt. Die Kirche-in-Mission dient der missio Dei, indem sie an der Errichtung des Schalom mitarbeitet, ohne dass der Gedanke an eine Vergrößerung ihres Einflusses oder ihrer Mitgliedschaft dabei eine Rolle spielen dürfte. Mission ist nicht gleich Missionierung. „Eine Kirche, die zuerst ihre Selbsterhaltung sucht, wird untergehen; eine Kirche, die sich in der Nachfolge aufs Spiel setzt, wird leben. “ 4
Folgen für das Kirchenverständnis und Kirchesein 1. Die DDR-Kirchen lernten es, ihre Minderheitssituation und ihre äußere Armut anzunehmen 2. In den Kirchen entwickelte sich so etwas wie eine „prophetische Wachheit“, d. h. ein Suchen und Hinspüren nach dem, was da von Gott in den „Zeichen der Zeit“ kommen will. 3. Es entstanden neue Formen der Gemeindearbeit besonders in großen Neubaustädten wie Besuchsdienste, moderne Gottesdienstformen, Bildung neuer Gemeindegruppen wie Hauskreise, Gemeindeseminare. „Offene Arbeit“, Friedens- und Umweltgruppen u. ä. . 4. Die Kirche lösten sich aus der Westfixierung: Nicht das weitere restaurative Überwintern im DDR-Staat und das Warten auf eine westliche Befreiung, sondern bejahende Annehmen der DDR-Situation. Sie war das von Gott gegebenes Aufgabenfeld der Kirche. Bildung des von den westlichen EKD-Kirchen gelösten Kirchenbundes der DDR 1969. 5. Aus theologisch-politischen Reflexionen erwuchs die Formel „Kirche im Sozialismus. 5
Heino Falcke auf des Bundessynode 1972 „Wir dürfen glauben, dass auch die sozialistische Gesellschaft unter der Herrschaft des befreiten Christus ist. Weder vom Sozialismus noch vom Antikommunismus können wir es uns nehmen lassen, unsere Gesellschaft im Licht der Christusverheißung zu verstehen. So werden wir frei von der Fixierung auf ein Selbstverständnis des Sozialismus, das nur noch ein pauschales Ja oder ein ebenso pauschales Nein zulässt. Christus befreit aus der lähmenden Alternative zwischen prinzipieller Antistellung und unkritischem Sichvereinehmenlassen zu konkret unterscheidender Mitarbeit… Es ist der Weg einer aus Glauben mündigen Mitarbeit, die von einer besseren Verheißung getragen ist, als der Sozialismus sie geben kann, und die einen verbindlicheren Auftrag kennt, als Menschen ihn erteilen können, und die darum konkret engagiert ist. . Unter der Verheißung Christi werden wir unsere Gesellschaft nicht loslassen mit der engagierten Hoffnung eines verbesserlichen Sozialismus. “ 6
Positionierung der Basisgruppen zum Sozialismus Bejahung sozialistischer Ideale und Leitvorstellungen: soziale Absicherung eines jeden Überwindung der Machtkonzentration des Großkapitals Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen Vorrang des Gemeinwohls vor Privatinteressen („Eigentum verpflichtet“) Stärkung der Basisdemokratie (R. Luxemburg) Versöhnung zwischen Mensch und Natur Kritik am realexistierenden Sozialismus in der DDR: Wahrheits- und Machtmonopol des Staates Aushebelung wirklicher Demokratie Ideologische Indoktrination, Gleichschaltung, Gesinnungsheuchelei Benachteiligung aller, die nicht opportunistisch mitlaufen Freund-Feind-Denken, Klassenkampfideologie, Militarisierung der Gesellschaft parteipolitische Bevormundung, Behinderung fachlicher, künstlerischer, persönlicher Entfaltung Überwachungsstaat (Stasi) Bau der Mauer, Terror gegen Ausreisewillige Bejahung und Kritik des westlichen Systems: Bejahung und „Sehnsucht“ nach freiheitlicher Demokratie mit Parlamentarismus, Gewaltenteilung, freie Medien. . . Kritik und Vorbehalten an kapitalistischer Wirtschaftsweise, deren strukturelle Ungerechtigkeit und systemimmanente Tendenz zu Umweltzerstörung. . . 7
Symbol der Friedensdekade und Friedenbewegung Schwerter zu Pflugscharen 8
Christlich oppositionelle Gruppierungen und Netzwerke in der DDR Gruppierungen: ● „Frauen für den Frieden“ ● Umweltgruppen ● „Solidarische Kirche“ ● „Offene Arbeit“ Netzwerke: ● „Frieden konkret“ ● „Die Arche“ ● Friedenskreise ● Gerechtigkeitsgruppen, ● „Kirche von unten“ ● IKOTA-Netzwerk. . . Ökologisch-friedenspolitische Bildungseinrichtungen und Netzwerke: ● Kirchliches Forschungsheim Wittenberg ● Berliner Umwelt- und Friedensbibliothek ● Evangelisches Einkehrhaus Bischofrod. . 9
Evangelisches Einkehrhaus Bischofrod Umwelttage, Ausstellungen, säkular offene Gottesdienste 10
Charakter und Wirken der ökumenischen Basisgruppen 1. In ihnen sammelten sich Menschen, auch Nichtchristen, die sonst in totale Resignation und Isolation abgesackt oder in Westflucht verschwunden wären. 2. In Ihnen entwickelte sich so etwas wie eine geistig-politische Gegenkultur, der Ansatz eines Paradigmenwechsels vor allem im Friedenverständnis, im Umweltbewusstsein, im Lebensstil, in den Visionen einer demokratischen Gesellschaft. 3. Diese Gruppen brachten in die Kirchen ein kritisch-progressives Potential ein, zu dem die Kirchen von sich aus wahrscheinlich nicht gefunden hätten. Beim Kirchentag 1985 in Meiningen 11
Der besondere Charakter der Ökumenischen Versammlung in der DDR 1. Die Zusammensetzung der Delegierten zu 50% Vertretern der Basisgruppen, zu 50% Vertreter der Kircheninstitution; 2. Die Basisgruppen brachten einen deutlichen Schub zu klaren und weitgehenden inhaltlichen Aussagen; 3. Im Zusammenwirken der theologischer Arbeit mit den "Zeugnissen der Betroffenheit" eine enorm dichte geistliche Atmosphäre und sehr klare, konkrete Optionen in den Themenfeldern. Ökumenisch Versammlung 1988 in Magdeburg 12
Arbeitsgruppen und Beschlusstexte der Ökumenischen Versammlungen in der DDR 1. Theologische Grundlegung: Umkehr in Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung 2. Leben in Solidarität – als Antwort auf weltweite Strukturen der Ungerechtigkeit; - als Solidarität mit Ausländerinnen und Ausländer 3. Mehr Gerechtigkeit in der DDR – unsere Aufgabe, unsere Erwartung 4. Der Übergang vom System der Abschreckung zum System politischer Friedensicherung 5. Orientierungen und Hilfen in Fragen des Wehrdienstes und vormilitärischen Ausbildung 6. Aspekte der Friedenserziehung 7. Kirche des Friedens werden 8. Auf der Suche nach einer neuen Lebensweise 9. Den Menschen dienen – das Leben bewahren 10. Ökologie und Ökonomie 11. Energie der Zukunft 12. Der Wert von Information für Umweltbewusstsein und Umweltengagement 13
Die wichtigsten Optionen der politische-spirituellen Aufbruchsbewegungen in der DDR 1. Optionen des Friedens: - Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung, - Postulat von Abrüstungsvorleistungen, vertrauensbildenden Maßnahmen, - Wehrdienstverweigerung als das „deutlichere Zeichen“ 2. Optionen der Gerechtigkeit: Abbau nationaler, blockgebundener Egoismen, neue solidarische Weltwirtschaftsordnung, Überwindung / Eingrenzung kapitalistischer Wirtschaftsweise 3. Optionen der Schöpfungsbewahrung: Primat der Ökologie vor Ökonomie, Wohlstandsinteressen und Nationalinteressen 4. Optionen zur Veränderung des persönlichen Lebensstil: einfacher, spiritueller, solidarsicher, naturverbundener, verantwortlicher leben 5. Optionen zur Veränderung der DDR: Umbau zu einen demokratischen, ökologisch und sozial entwickelten Staatswesen / Sozialismus 14
Die Friedliche Revolution 1989 Die Vorwendezeit Olaf-Palme-Friedensmarsch 1987 in Weimar 15
Verhaftungen, Mahnwachen, wachsender Wiederstand Gebetsgottesdienst, Mahnwache Gethsemanekirche 1988 Berlin Treffen der Basisgruppenvertreter Frieden Konkret Februar 1989 in Greifswald Ø Thema: „Legalität, Verpflichtung und Grenzen des Widerstandrechtes“ Ø Kontrolle der Wahlen Mai 1989 16
Die eigentliche Wendezeit Die oppositionellen Gruppen gehen in die Öffentlichkeit Vertreter kirchlicher Basisgruppen in Thüringen Weimar, den 30. September. 1989 Offener Brief an alle Verantwortlichen unseres Staates und an alle Bürge unseres Landes …. Wir rufen alle Bürger unseres Landes auf: 1. in den Bereichen ihrer Öffentlichkeit, in Betrieben, Schulen, gesellschaftlichen Organisationen, gegenüber Behörden und im Wohnbereich, die öffentliche Lüge nicht mehr mitzuspielen, sondern die Wahrheit bei jeder Gelegenheit auszusprechen und die notwendigen Fragen zu stellen; 2. sich die demokratischen Grundrechte nicht länger vorenthalten zu lassen, sondern sie so weit wie möglich schon jetzt zu praktizieren, z. B. Wahlen nur noch als wirkliche Wahlen wahrzunehmen, sich mit anderen zur gemeinsamen Willensbildung zusammenzuschließen usw. … 17
„Gebetsgottesdienste für unser Land“ 15. 10. 1989 Suhler Stadtkirche 18
Arbeit in politischen Arbeitsgruppen zum Umbau der DDR Ø Ø Ø Ø Demokratisierung des Staates Reform des Gesundheits- und Sozialwesens, Reform Bildungswesens, der Kulturpolitik, Demokratisierung des Rechtssystems, des Strafvollzugs, Umbau der Wirtschaft ökologischen Umbau der Gesellschaft, Regelung freier Reisemöglichkeiten …. „Demokratisierung und Ökologisierung des Sozialismus“ 19
Aus den Kirchen auf die Straßen Massendemonstration in allen Städten der DDR 20
Höhepunkt der Friedlichen Revolution war nicht der Fall der Mauer am 9. November sondern die Entmachtung der Stasi im Dezember 1989 21
Die Entmachtung der Stasi am 3. und 4. Dezember in Suhl 22
Rolle und Bedeutung der Kirchen in der Friedlichen Revolution 1989 § Dass der Aufbruch unseres Volkes in den Kirchen begann, hat dem ganzen Wendegeschehen einen politisch-spirituellen Charakter gegeben und ist ein entscheidender Grund für das gewaltlose Gelingen dieser Revolution. § Die Kirchen hatten in der Friedlichen Revolution eine „Hebammenfunktion“: indem sie ihr geistliches, geistiges, personelles und technisches Potential der beginnenden Volkserhebung zur Verfügung stellte, konnte sie eine "Sturzgeburt" der Wende in Chaos und Gewalt verhindern. 23
Die Nachwendezeit Vierpunkteformel zur Einheitsfrage: 1. Bekenntnis zur gemeinsamen Nation, 2. Ja zur gegenwärtigen Zweistaatlichkeit, 3. Entwicklung einer engen Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten, 4. im Rahmen eines gesamteuropäischen Prozesses langsames Zusammenwachsen beider deutschen Staaten zu einem Staat. Gründe für das Aufgeben eines eigenen Weges: 1. die Verführungskraft eines versprochenen Wirtschaftswunders war zu groß, 2. die Angst vor einem Rückfall in DDR-Verhältnisse war zu wach, 3. das Streben nach Machterweiterung bei führenden westlichen Politikern war zu groß, 3. die Zahl derer, die das eigenständige Einbringen wollten, war zu klein, 5. die Zeit für eine politische Aufbauarbeit, wie wir sie wollten, war zu kurz. 24
Vergessene Prägungen und Stärken der DDR-Kirchen? 1. Das klare Gegenüber zum Staat und zur Gesellschaft 2. Das Annehmen der Minderheitssituation 3. Das Leben innerer Freiheit in äußerer Armut und äußeren Unfreiheit 4. Das Leben vor allen aus geistlichen Motivationen 5. Ihre prophetischen Wachheit, 6. Ihre eindeutigen Parteilichkeit für Bedrängte und Benachteiligten. 25
Auseinandertriften der Gruppierungen in der Vorstellung für ein „Danach“ • Auf der einen Seite die Engagierten in den christlichen Basisgruppen und im Konziliaren Prozess, die über Jahre aus den Optionen des Konziliaren grundlegende Veränderungsvorstellungen sowohl für die östliche wie für die westliche Welt entwickelt hatten. • Auf der anderen Seite die, die erst im Herbst 1989 auf den Zug der Friedlichen Revolution aufsprangen, allein die Überwindung des DDRSystems und den Anschluss an das westliche Demokratie- und Wohlstandsmodell wollten und keinerlei konzeptionelle Vorstellungen von Veränderungen auch der westlichen Welt denken konnten. 26
Wiederaufnahme des Konziliaren Prozesse? Initiativen der Basisgruppen 1992 -1996 zur Wiederaufnahme des Konziliaren Prozesses Wird heute Ökumenischen Netz in Deutschland (ÖIND) weiterentwickelt. 27
Entwicklung neuer Paradigmen und gesellschaftlicher Systeme Die Menschheitsgeschichte zeigt immer wieder: 1. Im Höhepunkt einer Entwicklung beginnt ihr Niedergang; aus diesem entwickeln sich Kräfte neuer Paradigmen, neue kulturelle, soziale, politische Strukturen. 2. Selbst wenn aus "Wenden" wieder regressive "Rückwenden" werden, geht das Potential politisch-spiritueller Erfahrungen geht nie ganz verloren; es kommt, wenn die Zeit reif ist, erneut zur Wirkung kommen. 28
II. Aufbruchs- und Wendeerfahrungen in der DDR – Lernerfahrungen für heute? Sieben Thesen und Fragen 1. Krisenentwicklungen können sehr lange gehen, ohne dass es Anzeichen einer möglichen Wende gibt. Es spüren zwar alle, dass etwas schief läuft, doch die Vorstellungen, dass etwas anderes möglich ist, wird von der großen Masse als realitätsferne Utopien abgelehnt. Frage: Wo ist diese Schizophrenie zwischen dem Wissen, so kann es nicht weitergehen, und die Angst vor alternativen Möglichkeiten heute zu sehen? 2. Wendezeiten bauen sich lange im Verborgenen, im Untergrund immer erst bei Einzelnen und Außenseitergruppen auf. Sie werden immer erst verlacht, verspottet und oft blutig verfolgt. Frage: Sehen wir das in bestimmten alternativen Bewegungen heute? Welche sind es? Wie gehen wir mit ihnen um? 3. Wendezeiten kommen erst dann zum Durchbruch, wenn sich die Widersprüche in der allgemeinen Entwicklung zuspitzen und bestimmte Reizschwellen überschritten werden. Frage: Sehen wir solche Zuspitzungen und Reizschwellen heute im gegenwärtigen Geschehen? Welche könnten es sein? Welche müssten / könnten noch kommen? 4. Wendezeiten haben nur dann eine Chance, nicht im Chaos zu enden, sondern zu einem Besseren, zu einen möglichen Paradigmenwechsel zu führen, wenn rechtzeitig genügend alternative Inhalte und Modelle entwickelt wurden. Frage: Sehen wir dieses Wendepotential heute? Wo und was ist es? Worin müsste es deutliche entwickelt werden? 29
Lernerfahrungen heute? 5. Das Potential einer Wende kommt immer erst zur Wirkung, wenn es einen „Kairos“ in der Geschichte gibt. Dieser ist nicht berechenbar und nicht herstellbar, muss aber hellsichtig erkannt werden. Frage: Sind wir heute sensibel und hellsichtig genug, einem möglichen Kairos nachzuspüren, auf ihn zu warten und dann ganz da zu sein? 6. In einem revolutionären Aufbrechen kann eine Wende nur dann gelingen, wenn es genügend Menschen gibt, die ganz wach sind, sehen, verstehen und dann den Mut haben, das Notwendige aufzuzeigen und voranzugehen. Frage: Wo gibt es diese Menschen heute? Wo sind wir? 7. Die Kirche wird als geistliche Größe nur Bestand haben und sie kann nur dann als Wendekraft auf den Schalom Gottes hin wirken, wenn sie der „missio dei“, der Sendungsbewegung Gottes in die Welt hinein folgt, wenn sie in prophetischer Wachheit die „Zeichen der Zeit“ erkennt und wenn sie den Mut hat, eine Außenseiterrolle wahrzunehmen und Minderheitskirche zu werden. Frage: Ist unsere Kirche heute mehr eine Kirche, die sich durch Anpassung, durch institutionelle Absicherung und Marketing zu behaupten sucht, oder setzt sie sich in der Nachfolge Jesu mit seiner Krisen- und Befreiungsbotschaft aufs Spiel? Was muss geschehen, damit unsere Kirche zu solch einer Nachfolgekirche wird? Wo stehen wir selbst als Glieder und Mitarbeiter unserer Kirche? 30
Gebrochene Aufbrüche in der Nachwendezeit Der Versuch, die politisch-spirituellen und geistlichen Erfahrungen aus der DDR-Zeit in die gemeinsame deutsche Kirche und politische Entwicklung einzubringen, scheiterte weitgehend aus folgenden Gründen: 1. Die West-Wohlstandsfaszination der Volksmassen und entsprechende politische Versprechungen; ihre weitgehende Unfähigkeit einer tiefergehenden kritischen Sichtweise; 2. Das Auswandern der politisch Aktiven aus der Kirche; 3. Die in der Mehrheit der Kirchen und Gemeinden zu geringe Verankerung der neuen theologischen Sichtweise der „missio Dei“ und des missionarischen Gemeindeaufbaus; 4. Die Verlockungen, wieder Volkskirche im klassischen Sinne zu werden, in einen privilegierten, wohlhabenden Pfarrerstand zu kommen, in einem „Freundschaftsverhältnis“ zum Staat und den Einflussreichen der Gesellschaft zu leben. Dies exemplarisch deutlich in den Auseinandersetzungen (der Synoden) um: Militärseelsorgevertrag, Religionsunterricht in den Schulen oder Gemeindekatechumenat? Gestaltung der Kirchensteuer Höhe der Pfarrergehälter Hintenanstellen der Optionen aus dem Konziliaren Prozess 31
Veränderungen in Selbstverständnis und Position der Kirche heute Geistlich-theologische und politische Positionsverschiebungen (Kundgebung der EKD-Synode zu Reichtum und Armut in Deutschland (Nov. 2006; Perspektivpapier für die Ev. Kirche im 21. Jahrhundert („Kirche der Freiheit“, 2006) 1. Die Formel „Kirche für andere“ wird aufgenommen, aber nicht im Sinne der „missio Dei“, sondern im Sinne der Stärkung der „Kernkompetenzen“ der Kirche: Gottesdienst und Seelsorge. Weltverantwortung und Diakonie werden Zusatzaufgaben der Kirche. 2. Hauptaufgabe der Kirche, ihre Zukunft durch „Stärkung des evangelischen Profils“ „auf dem Markt der Sinnanbieter“ zu sichern, „gegen den Trend zu wachsen“, die „Taufquoten zu steigern“, sich mit finanziellen Ressourcen für die Zukunft abzusichern. 3. Die neue Religiosität wird als Chance benannt, aber eine dialogische-theologisch-transreligiöse Auseinandersetzung mit ihr wird kaum geleistet. 4. Die Herausforderungen der Globalisierung und der Weltprobleme werden benannt, aber eine theologisch Deutung der „Zeichen der Zeit“ und eine aktuelle Schalomansage wird kaum gewagt. 5. Die skandalöse Reichtums-Armutsentwicklung wird angeklagt, ein gerechteres Steuersystem wird vorgeschlagen, die Reichen werden zu mehr Spendenbereitschaft aufgefordert, doch die Ursachen- und Systemfragen (Kapitalismusfrage) werden ausdrücklich nicht gestellt. 6. In der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte wird mehr „Eigenverantwortung“ des Einzelnen und marktförmiges Handeln befürwortet, weniger die Solidarität und die Stärkung des Sozialstaates. 32
Anstehende Fragen: 1. Ist politische Spiritualität, prophetische Zeitansage und Nachfolge der „missio Dei“ eher einer Kirche gegeben, die im kritischen, auch bedrängten Gegenüber zur Welt lebt, auf Statusabsicherung verzichtet und eher arm als reich ist? 2. Ist die lebendige „Kirche Jesu Christi“ im Sinne der „missio Dei“ heute mehr außerhalb der Kircheninstitutionen zu finden? 3. Ist der lebendige Gott - der die Welt auf den Schalom hin bewegende Gott - eher außerhalb des traditionellen Christentums zu finden, z. B. in transreligiösen, politisch-spirituellen Aufbruchs- und Befreiungsbewegungen? 4. Können oder wie könnten Kircheninstitution und spirituelle Aufbruchsbewegungen wieder zusammenfinden? 33
Sozialethische, spirituelle „Wendekräfte“ in der Menschheitsgeschichte Großen Religionsstifter, z. B. : Mose, Buddha, Jesus, Mohamet… Große Weisheitslehrer, Propheten, Inspiratoren, z. B. : Laotse, Konfuzius, Sokrates, Plato, Aristoteles, die Propheten des AT… einige Märtyrer und Heilige der Christenheit; Franz von Assisi, Thomas Morus, Martin Luther, Thomas Münzer, Karl Marx, Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, Gorbatschow… Große Befreiungsbewegungen, z. B. : Urchristliche sozial-kommunitäre Gemeinden, Überwindung der Sklaverei, der Leibeigenschaft; Vorreformatorische Bewegungen, Armutsbewegungen, Katharer, Waldenser, Bettelorden, Böhmische Brüder, die Täufer, die Reformation, Aufklärung, Ideale der Französischen Revolution, Sozialistische Bewegungen, Entwicklung der Allgemeinen Menschenrechte, Antiapartheitsbewegungen, die 68 ziger-Bewegung, Befreiungsbewegungen im „Ostblock“, Ökologische Bewegung, Bewegungen Solidarischer Ökonomie, For-Future-Bewegung? … 34
Spannung zwischen priesterlicher und prophetischer Kirche Priesterliche Religiosität Stärker: Priester als Heilsvermittler, Institutions- und Kultbindung, Amtskirche, restaurativ, gesetzlich-schriftgelehrt-dogmatisch, Anpassen an Zeitsituation, Bündnis mit weltlicher Macht, Reichtumsanfällig Im AT: Priester und Königtum; kultische Gesetzeswerke. Im NT: frühkatholische Schriften (Petrus, Hebräer, Jakobus. . . ) In KG: Orthod. Kirchen, röm. -kath. Kirche; Anglik. Kirchen Prophetische Religiosität Gefahren, Chancen, Notwendigkeiten? Was sind die Lernerfahrungen für heute? Stärker: Heil unmittelbar, kult- und amtskritisch, Laienkirche, reformatorisch, mystisch-charismatisch-frei, prophet. Zeitansage, Reich-Gottes-Vision, kritisch-widerständig zur weltliche Macht, Armutsbejahung, Im AT: Propheten; Weisheitsschriften. Im NT: Jesus (Evangelien), Paulus, Johannes, Offenbarung. Im KG: protestant. Kirchen, Freikirchen, charismat. Kirchen 35
Mögliche Reformaufgaben der Kirche heute (1) These: Gott überlässt diese Welt nicht sich lebst, sondern ist in ihr rufend und ringend unterwegs auf seinen Schalom zu. Darum ist es zentrale Aufgabe der Kirche, der „missio Dei“, der Bewegung Gottes in die Welt hinein, zu folgen. Dazu gehören heute vor allem: eine eigene ganzheitliche Spiritualität entwickeln die „Mission“ der Kirche als Spurensuche Gottes in allen Bereichen der Welt verstehen und gestalten– nicht gegen, sondern mit anderen religiösen und freiheitlichen Aufbrüchen (interreligiöse Ökumene); Kritische Distanz zu Mächten und Selbsterlösungsideologien dieser Welt; Aufdecken der falschen Götter, bes. Reichtums- und Eigennutzideologien, Konsumismus, „Mammon-Herrschaft“ usw. – und der dahinter stehenden Menschenbilder; Erkennen der „Zeichen der Zeit“, prophetische Wachheit als Aufdecken der Missstands. Ursachen, Konkretisierung der Schalom-Ansagen und des Umkehrrufes für heute; … 36
Mögliche Reformaufgaben der Kirche heute (2) konkreter Einsatz für die Ausgegrenzten, Armen, Opfer der jeweiligen Fehlentwicklungen; nicht panische Abwehr des Kleiner- und Ärmerwerdens, sondern dies als Chance zur Konzentration auf das Wesentliche annehmen; Profilierung und Selbsterhalt in einer der „missio Dei“ nachfolgenden Spiritualität suchen; Gemeindeaufbau zur offenen, mündigen Gemeinde; Wende von der Pastorenkirche zur Gemeindekirche; Reduzieren bzw. Einfrieren der Pfarrergehälter zu Gunsten anderer Mitarbeiterstellen; Laienordination u. a. ; Vorausschauender schrittweiser Umstieg auf eine finanziell nicht mehr privilegierte Gemeindekirche (z. B. neben Kultursteuer verbindlicher Gemeindebeitrag statt Kirchensteuer? ). . . . 37
1. Notwendige Änderungen im System der Sozialen Marktwirtschaft Ø Verabschiedung vom Irrglauben ständigen wirtschaftlichen Wachstums Ø Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft durchsetzen Ø Entmachtung der internationalen Großkonzerne, Förderung der Klein- und Mittelständigen Wirtschaft Ø Schnellstmöglicher Umstieg auf regenerative Energie, drastische Senkung des Energieverbrauchs Ø Aufgabe falscher Subventionen, z. B. der Kohle- und Atomindustrie, des Flugbenzins Ø Durchsetzung konsequenter Ökosteuer, CO 2 -Steuer, Plastiksteuer u. ä. Ø Umstieg auf Kreislaufwirtschaft, Wiederverwendung aller Ressourcen Ø Umstieg und konsequente Förderung der biologischen Landwirtschaft Ø Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel; Entprivatisierung der Öffentlichen Güter Ø Förderung einer ganzheitlichen Werte-, Umwelt- und Friedensbildung vom Kindergarten bis zu den Hochschulen und in den Medien Ø… Treibhausgas in Gramm pro Person/km: ● Flugzeug 211 g, ● PKW (1, 5 Pers) 142 g, ● Linienbus 76 g, ● Reisebus 32 g; ● Bahn-Nahverkehr 67, ● Bahn-Fern 41 g. 38
2. Was können Einzelne und Gruppen tun? Ø Das materielle Verbrauchen von Ressourcen und Gütern so gering wie möglich halten Ø Wo möglich, gemeinsames Nutzen, reparieren statt neu kaufen und alles für sich haben wollen Ø Drastisches Reduzieren oder Vermeiden von Flugreisen Ø Umstieg auf die kleinsten PKWs, Elektroauto, Fahrrad u. ä. Ø Soweit wie möglich öffentliche Verkehrsmittel nutzen Ø Möglichst biologische Nahrungsmittel, fleischreduzierte Ernährung Ø Kritischer Einkauf von Textilien und im Ausland produzierte Güter (Herstellung, Fairer Handel) Ø Unterstützen von Initiativen, Gruppen und Parteien, die in dieser Richtung wirken. Ø … Merke: In alldem müssen wir nicht perfekt sein. Die Änderung der Sichtweise, die Anfänge und kleinen Schritte sind entscheidend für eine andere Politik und zivilisatorische Wende. 39
3. Die Entwicklung einer postkapitalistischen Ökonomie Die kapitalistischen Abschöpfungs-, Bereicherungs- und Externalisierungsmechanismen aus den Wirtschaftsabläufen herausnehmen und durch nachhaltige, solidarisch-kooperative Wirtschaftsstrukturen ersetzen. Zum Beispiel: Ø neue Finanzordnung, Abschaffung des Kapitalzins und der spekulativen Geldgeschäfte; das Bankensystem als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, in dem keine Gewinne erzielt werden Ø Eigentumsordnung, in der Eigentum zum eigenen Lebensunterhalt aber nicht mehr zur leistungslosen Abschöpfung fremder Leistung genutzt werden kann (z. B. Wuchermieten); in der Grund Boden wieder in Gemeineigentum übergehen Ø leistungsgerechtes und solidarisches Lohnsystem, in dem die Entlohnung a l l e r nach Tarifen in einer Spreizung von maximal bis zu 1: 10 gezahlt und Mindestlöhne gewährt werden Ø neue Arbeitskultur, in der die schwindenden Arbeitsplätze durch Absenken der Regelarbeitszeit (z. B. 20 -Stundenwoche) so geteilt werden, dass jeder Arbeitsfähige Erwerbsarbeit findet und neben der Erwerbsarbeit Eigenarbeit, Familien- und Pflegearbeit und Gemeinwohlarbeit als gleichwertig gelten und gelebt werden können 40
Erkenntnisse der Systemtheorie und der Revolutionswissenschaft Bifurkationen Paradigmenwechsel ● Entscheidend für eine „Wende“: - Vorlauf von Pioniergruppen und Alternativkräften - Wahrnehmen der Kairos-Situation, - Entwicklung von Doppelstrategien - Zusammenwirken von „oben“ und „unten“ (nach Ervin Laszlo, Fritjof Capra u. a. ) 41
Vorrangige Aufgaben der Kirche heute a) auf theologisch-spiritueller Ebene: 1. die eigene christliche Erfahrungsspiritualität wieder entdecken, 2. in neuen spirituellen Bewegungen das Suchen und Wirken Gottes für möglich halten und aufnehmen, 3. Erfahrungsspiritualität und Verkündigungsspiritualität, meditative Versenkungsspiritualität und Wortspiritualität in eine fruchtbare Korrelation bringen. b) auf theologisch-politischer Ebene: 1. den prophetischen, theologisch zeitkritischen Auftrag wahrnehmen (Ideologiekritik, Zeichen der Zeit deuten. . . ) 2. das christliche Lebensverständnis und Menschenbild gegen das marktfundmentalistische ins Feld führen, 3. politische eindeutig und konkret Partei ergreifen für die Opfer der heutigen Bereicherungs- und Ausgrenzungsökonomie. 42
„Gott“ neue denken „Gott“ - eine wollende, schöpferische, liebende und befreiende „Geistkraft“ in der Evolution allen Seins, die nach Befreiung, nach immer höheren Entfaltung des Lebens sucht, drängt, ruft und führt. 43
Ermutigung Progressive Änderungen sind - von Gott angestoßen - in der Menschheitsgeschichte immer von Einzelnen und kleinen Gruppen ausgegangen! Das Wendepotential heute Die Fridays for Future-Bewegung, Scientists for Future und Folgebewegungen… Ökologiebewegung, Friedensbewegung, Dritte-Welt-Bewegung, Gerechtigkeitsgruppen, auch feministische Bewegungen. . . Nichtregierungsorganisationen wie „Greenpeace“, Attac, Ärzte ohne Grenzen u. a. Kairos-Bewegung „Wirtschaft im Dienst des Lebens“ „Ökumenische Initiative Eine Welt“ (ÖIEW) Erd-Charta-Bewegung (eine sozial-ökologische Weltgemeinschaftsethik) Lebensstilbewegung „anders besser leben“; kritische Verbraucherbewegung. . . „Anders wachsen – Wirtschaft braucht Alternative zum Wachstums“ Alternative Ökonomie-Bewegungen, Solidarische Ökonomie, Postwachstumsökonomie, Wirtschaftswendeinitiativen, Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung u. v. a. Neue Demokratiebewegung: Bürgerbeteiligungsdemokratie, „Verfassungskonvent“. . . Flüchtlings- und Migrationshelfergruppen Kritische Internetbewegungen . . . 44
Ökozoikum 45
Zusatzfotos 46
Die politische Wende 1989 / 1990 in Suhl Demonstrationen zeigen den Willen des Volkes zu Veränderungen
Vor der Stadtkirche Suhl 48