Wohnungspolitik als staatliche Aufgabe Ein Rckblick und ein
Wohnungspolitik als staatliche Aufgabe Ein Rückblick und ein paar unangenehme Fragen zur Gegenwart Eine Stadt nur für Reiche? Hamburg und seine Wohnungspolitik 10. Konferenz zur sozialen Spaltung 06. Februar 2020, Hafen. City Universität, Hamburg apl. Prof. Dr. Björn Egner Institut für Politikwissenschaft Technische Universität Darmstadt bjoern. egner@tu-darmstadt. de
Vorbemerkungen / Thesen § Wichtige Themen heute: Wohnungsmieten, Immobilienpreise, Aufwertung/Verdrängung § Wohnungspolitik ist ein komplexes Politikfeld. These: § Es gibt keine „neuen“ Probleme. § Die derzeitige Lage war abzusehen. § Potenzielle Lösungen sind bekannt. § Wir sprechen nur nicht gerne darüber. 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 2
Vortragsstruktur 1. Wohnungspolitik als staatliche Aufgabe? 2. Instrumente der deutschen Wohnungspolitik 3. Phasen der deutschen Wohnungspolitik 4. Wo stehen wir heute? 5. Was tun wir? Was können wir tun? 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 3
1. Wohnungspolitik als staatliche Aufgabe? § Was ist eigentlich Wohnungspolitik? § Ist Wohnungsversorgung Aufgabe des Staates? § Weshalb besteht ein Spannungsfeld zwischen Markt und Staat? 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 4
Was ist Wohnungspolitik? Was sich Politikwissenschaftler so ausdenken…: „Wohnungspolitik bezeichnet alle politischen und verbandlichen Aktivitäten sowie die staatlichen Maßnahmen, die sich mit der Wohnraumversorgung der Bevölkerung, dem Neubau, der Modernisierung und der Erhaltung von Wohnungen befassen. “ (Schubert/Klein, Politiklexikon, 72018: 373) 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 5
Wohnungsversorgung als Staatsaufgabe § Wohnen ist ein Grundbedürfnis § psychologisch: Wohnung ist wesentlicher Bestandteil des ökonomischen Sicherheitsbedürfnisses (Fromm 1973) § politisch: Internationale Definition der Grundbedürfnisse (IAO 1976) nennt „Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung und öffentlicher Verkehr“ § Staatliche Wohnungspolitik ist Ergebnis der Industrialisierung (Abhängigkeit, Verdichtung, Mobilität, Unfähigkeit zur Selbstsicherung) § Wohnen ist Teil der Daseinsvorsorge (im Sinne von „Grundversorgung“) § Verwaltungswissenschaft: staatliche Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen im Basisbereich (Forsthoff 1938) § sozialstaatliche Grundrechtstheorie: Leistungen des Staates ermöglichen die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 6
Wohnungspolitik im Wohlfahrtsstaaten sichern Risiken ab: § Krankheit (Krankenversicherung) § Invalidität (Unfallversicherung, Knappschaften) § Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung, staatl. Leistungen) § einkommensloses Alter (Rentenversicherung) Wohnungsbezogene Risiken: § Obdachlosigkeit (Notunterkünfte) § Wohnungslosigkeit (nur temporäre Unterkunft) 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 7
Politik zwischen Markt und Staat § Dualität zwischen Markt und Staat durchzieht viele Politikbereiche Spannungsfelder: § Anteile von Markt und Staat § Verhältnis zwischen Regulierung und Finanzierung § Balance zwischen Versorgungssicherheit und Effizienz In der Wohnungspolitik zusätzlich: § hohe Bedeutung der Wohnung (Grundbedürfnis, Rückzugsraum) § große ökonomische Bedeutung für den Einzelnen § lange Zeiträume, schwerfälliges System § starke gegenseitige Abhängigkeiten mit/von anderen Politikfeldern 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 8
2. Instrumente der deutschen Wohnungspolitik § Regulative Instrumente 1) Mietrecht § Finanzierungsinstrumente § Objektförderung („Investitionen in Steine“) 2) Sozialer Wohnungsbau 3) Eigenheimförderung / -zulage § Subjektförderung („Investitionen in Menschen“) 4) Wohngeld 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 9
3. Phasen der deutschen Wohnungspolitik 1950 er: Beseitigung der kriegsbedingten Wohnungsnot 1960 er: Soziale Marktwirtschaft in der Wohnungspolitik 1970 er: Regulierung statt Angebotserweiterung 1980 er: Stagnation und Vermarktlichung 1990 er: Deutsche Einheit und ihre Folgen 2000 -2005: Die großen Reformen von Rot-Grün seit 2006: Rückzug des Bundes 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 10
Ausgangsituation 1945 11, 8 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge 9 Millionen Evakuierte aus den Städten Stand in der „Trizone“ 1946 : 8, 2 Millionen Wohneinheiten 13, 7 Millionen Haushalte ca. 5, 5 Millionen fehlende Wohnungen 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 11
1950 er: Kriegsbedingte Wohnungsnot 1949: ca. 5, 5 Millionen fehlende Einheiten § Kündigungsverbot für vermieteten Wohnraum § staatliche Festlegung der Mietniveaus § staatliche Vergabe von privatem Wohnraum an Wohnungssuchende bis 1959: schnelle Erstellung von vielen Wohnungen staatliche Angebotspolitik für „breite Schichten des Volkes“ (1. Wohnungsbaugesetz) § 3, 3 Mill. vom Bund finanzierte Wohnungen, § 2, 7 Mill. von privaten Investoren finanzierte Wohnungen 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 12
1960 er: Soziale Marktwirtschaft kriegsbedingtes Wohnungsnot gilt als erledigt allgemein gute ökonomische Entwicklung stufenweiser Abbau der Zwangsbewirtschaftung, Deregulierung Verlangsamung des Sozialen Wohnungsbaus gleichzeitig starker Bevölkerungsanstieg 1965: Einführung des Wohngeldes 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 13
1970 er: Regulierung statt Angebotserweiterung Verschärfung des Mietrechts zugunsten der Mieter „Mittelschichtspolitik“: starker Anstieg der Abschreibungen nach § 7 b ESt. G (Eigenheimförderung) weitere Reduzierung des Sozialen Wohnungsbaus Konzentration auf „Bedürftige“ 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 14
1980 er: Stagnation und Vermarktlichung des Wohnungssektors Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit Wohnungsmarkt gilt als „ausgeglichen“ Sozialer Wohnungsbau für „Zielgruppen“/Regionen 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 15
1990 er: Deutsche Einheit und ihre Folgen Binnenmigration von Ost nach West Reaktivierung des Sozialen Wohnungsbaus Ausdehnung der Bauprogramme auf die neuen Bundesländer gleichzeitig Abriss zur Stabilisierung der Märkte 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 16
2000 -2005: Die großen Reformen von Rot-Grün grundlegende Modernisierung des Mietrechts versuchte Abschaffung der Eigenheimzulage aus fiskalischen Gründen deutliche Anpassung des Wohngeldes Sozialer Wohnungsbaus für „Restpublikum“ (jetzt „Soziale Wohnraumförderung“) 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 17
seit 2006: Rückzug des Bundes endgültige Abschaffung der Eigenheimzulage Verlust der institutionellen Kopplung (Ministerium, Ausschüsse, Sprecher) Bundespolitik „lehnt sich zurück“ Veräußerung kommunaler Wohnungsunternehmen Verlagerung des Sozialen Wohnungsbaus auf die Länder Wohnungspolitik als „sterbendes Politikfeld“ Symbolische Reformen („Mietpreisbremse“) 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 18
Symbolisch: Sozialer Wohnungsbau (Neubau) 500 000 450 000 400 000 350 000 300 000 250 000 200 000 150 000 100 000 50 000 0 1950 1960 1970 1980 Bundesgebiet 1990 Neue Länder 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 19 2000 2006 2010 2015
4. Wo stehen wir heute? § Status der Instrumente § Status der Mietmärkte § gesellschaftliche Situation § politische Situation 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 20
Status der Instrumente § Regulative Instrumente 1) Mietrecht / Mietpreisbremse 2015 § Finanzierungsinstrumente § Objektförderung („Investitionen in Steine“) 2) Sozialer Wohnungsbau seit 2000 3) Eigenheimförderung / -zulage 2005 § Subjektförderung („Investitionen in Menschen“) 4) Wohngeld / Kd. U 2005 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 21 Baukindergeld 2018
Zusammenfassung der Entwicklung seit 15 -20 Jahren Konzentration auf Regulierung & Subjektförderung Pathologien der Regulierung: § Effektivität („Kontrollproblem“) § Umgehungsstrategien § (intendierte) „Schlupflöcher“ Pathologien der Subjektförderung § verlässt sich auf die Nachfragestützung § nur indirekter Einfluss auf den Markt 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 22
Status der Mietmärkte, Beispiele Nettokaltmiete pro m 2 16 14 12 10 8 6 4 2 0 M F S FR HH IN 2004 HD DA 2015 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 23 MZ RE GE B'vn Quelle: BBSR
Städte mit hohem Anstieg Nettokaltmiete pro m 2 16 +35% 14 12 10 +56% +45% 8 6 4 2 0 WOB B BA IN TR WÜ 2004 KS 2015 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 24 A M BS OL Quelle: BBSR
Berlin: Die Aufholjagd 150 140 130 120 110 100 90 80 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Mieten 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Bruttolöhne Quelle: BBSR / AG VGR 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 25
Kassel: Ein „rising star“ der Mietmärkte 150 140 130 120 110 100 90 80 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Mieten 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Bruttolöhne Quelle: BBSR / AG VGR 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 26
Die gesellschaftliche Situation § zunehmende Binnenmigration § Druck auf Wohnungsmärkte in den attraktiven (Groß)Städten § massive Mietpreissteigerungen, v. a. in den Städten § deutliche Zuwächse bei Immobilien- und Baulandpreisen § fehlendes bezahlbares Wohnungsangebot § Verdrängung § zunehmende Mieterproteste § Kritik an Bodenverteilung 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 27
Die politische Situation Bund: „Wir sind nicht mehr zuständig. “ (Föderalismusreform) Länder: „Wir wollten die Zuständigkeit nicht wirklich haben. “ „Das ist kein flächendeckendes Problem. “ „Wir haben dafür keine Kapazitäten/Mittel. “ „Das ist ein kommunales Problem. “ Städte und Gemeinden: „Wir haben kein Geld. “ „Wir haben keine Kapazitäten/Flächen. “ „Wir wollen gar nicht wachsen. “ 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 28
5. Was können wir tun? Was sind die Gründe für Mietpreisbelastung (empirisch)? Beispiel: nach 1949 errichtete Altbauten mittleren Wohnwert +100 €/qm Baulandpreis +1% mehr Singles +1% Bevölkerungswachstum +1. 000 Einwohner pro km 2 +1% Pendleranteil +1% Wohnungen im 1. Förderweg +0, 71 +0, 54 +0, 23 -1, 36 -0, 18 -0, 44 N=39, korr. R 2=0, 706 Quelle: Egner et al. 2018 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 29
Daraus sich ergebende Lösungsansätze Offensichtliche, aber hoffnungslose Lösungsansätze: § höhere Einkommen § Regulierung der Mietpreise § Dämpfung der Baulandpreise Illusorische Lösungsansätze: § Singlehaushalte (kulturelles/demographisches Phänomen) § Bevölkerungswachstum („Schwarmstädte“) Realisierbare Lösungsansätze: § „Pendelbarkeit“ verbessern 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 30
Lokale Politik ist aktiv, aber wenig effektiv! § Erbpacht statt Verkauf § Förderung von Genossenschaften § Immobilien-/Wohnungstausch, Umzugsprämien § Konzeptvergabe, Städtebauliche Verträge § Quartiersschutzsatzungen § Nutzung von Konversionsflächen / Innenstadtbrachen § Verdichtung § „scharfes“ Baurecht (z. B. Bauzwang, Rückkauf) § Integrierte Bauplanung / Regionalplanung („Arbeitsteilung“) § öffentliche Wohnungsunternehmen als „Steuerungsreserve“ 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 31
Aufmerksamkeitszyklen der Politik § Problem: viele Maßnahmen zielen auf Mittelschichtshaushalte (derzeitige Mietpreisentwicklung betrifft auch diese) § Konstante deutscher Politik insgesamt: Mittelschichtsorientierung (Mittelschicht als „Alarmanlage“ der Volksparteien) § situative Reaktion des Parteiensystems § Politik arbeitet derzeit reaktiv (z. B. Baukindergeld) Fragen: § Interessiert uns nur noch die Mittelschicht? § Oder brauchen wir wieder eine Wohnungspolitik für alle? 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 32
Einige (unangenehme) Fragen Brauchen wir § stärkere Regulierung (und Überwachung…)? § eine Revitalisierung des Sozialen Wohnungsbaus? § eine Reform der Finanzausgleichssysteme? § eine Erbschaftssteuerreform / Vermögenssteuer? § eine Bodenreform? § Enteignung / Verstaatlichung des Wohnungsbestandes? 19. Oktober 2021 | Fachbereich 02 | Institut für Politikwissenschaft | apl. Prof. Dr. Björn Egner | 33
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