Soziale Experimente mit dem Pflegebudget erste empirische Ergebnisse
Soziale Experimente mit dem Pflegebudget: erste empirische Ergebnisse Volkswirtschaftliches Forschungskolloquium der Universität Kassel am 7. Februar 2007 Alexander Spermann
Agenda I. Problemstellung & Evaluationsdesign II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung IV. Fazit
Agenda I. Vorstellung des Evaluationsdesigns 1. Problemstellung 2. Projektstrukur 3. Evaluationsdesign 4. Erfahrungen anderer Länder II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung IV. Fazit
1. Problemstellung • Demographie: Anteil der Pflegebedürftigen wird stark zunehmen • Single-Gesellschaft und Mobilität: Verlust familiärer Netzwerke • Sachleistungssystem: Zu unflexibel wegen staatlich definierter Leistungskomplexe? • Gefahr: “Heimsog” treibt Pflegekosten in die Höhe
Ziele des Pflegebudgets • Ziel 1: Höhere Zufriedenheit und höhere Pflegequalität • Ziel 2: Stabilisierte häusliche Pflegearrangements und längere Verweildauer in häuslicher Pflege • Ziel 3: Dynamische Kosteneffizienz bei gleicher Pflegequalität
Die drei Elemente des Pflegebudgets Sachleistungselement Geldleistungselement Fallbetreuung
Sachleistungselement • Auszahlung in Höhe des Sachleistungsniveaus • Ausschließlich für legale Anbieter • Nicht für Familienangehörige
Geldleistungselement • Keine Restriktion der Ausgaben auf gesetzlich definierte “Verrichtungen” • Geldzahlung geht an Pflegebedürftige, die Leistungserbringer selbst bezahlen
Fallbetreuer • Hilft bei der Organisation des Pflegearrangements • Überwacht die Pflegequalität bei regelmäßigen Besuchen • Output-Kontrolle statt Input-Kontrolle
2. Die Projektstruktur Spitzenverbände der sozialen Pflegekassen (Auftraggeber) Weiterbildung Projektträger Evangelische Fachhochschule Freiburg Koordinierungsstelle der Spitzenverbände Geschäftsführende Steuerungsgruppe Stäbe Case Manager Coaching Öffentlichkeitsarbeit Rechtsberatung
Wissenschaftliche Begleitforschung ZEW § § ökonomische Aspekte der Budget-verwendung Verweildauer in der häuslichen Pflege § § § FIFAS soziologische Begleitung Messung von Zufriedenheit und Lebensqualität der Pflegebedürftigen und der Angehörigen Veränderung von Pflegearrangements § EFH/AGP Koordination ZEW: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung FIFAS: Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft EFH: Evangelische FH Freiburg AGP: Arbeitsschwerpunkt Gerontologie und Pflege
Die Projektstandorte • Bayern: München (Neuperlach, Bogenhausen) • Hessen: Marburg Biedenkopf & Kassel • Nordrhein Westfalen: Unna • Rheinland Pfalz : Neuwied (mit integriertem Budget) • Sachsen: Annaberg • Thüringen: Erfurt
Das Evaluationsproblem • Ziel: Ermittlung des kausalen Effekts • Definition: Unterschied zwischen der Situation eines Pflegebedürftigen bei Bezug des Pflegebudgets und der Situation des Pflegebedürftigen bei Bezug einer alternativen Leistung • Problem: Fehlende kontrafaktische Situation
Lösungsansatz Konstruktion einer geeigneten Kontrollgruppe: Grundsätzlich anspruchsberechtigte Personen werden zufällig in eine Teilnehmerund in eine Nicht-Teilnehmergruppe unterteilt.
3. Das Evaluationsdesign Stationäre Pflegebedürftige Zufallsauswahl Pflege budget Teilnehmer Häusliche Pflege Sach- oder Geldleistung Nicht-Teilnehmer: Pflegebedürftige, die sich bereit erklärt haben, an dem Modellprojekt teilzunehmen
4. Erfahrungen in anderen Ländern • Positive internationale Erfahrungen in den Niederlanden, Großbritannien und USA Deskriptive Evidenz durch Studien • Umfangreiche Evaluation: Cash & Counseling in den USA
Beispiel USA • Zielsetzung: Pflegebudget soll für alle Pflegebedürftigen geeignet sein unabhängig vom Alter und der Art der Pflegebedürftigkeit • Innovationen: – Auch Angehörige (außer Ehepartnern) u. Freunde können als Pflegekräfte eingestellt werden – Überforderte Pflegebedürftige können einen Vertreter ernennen – Case-Manager beraten und unterstützen bei der Buchführung/Gehaltsabrechnung
Methodische Umsetzung: Soziales Experiment • Teilnehmerzahlen (sowohl Programmgruppe als auch Kontrollgruppe): • Arkansas: 2. 008 • New Jersey: 1. 730 • Florida: 1. 817 Insgesamt: 5. 555 • Nach der Anmeldung: Randomisierung in Programm- und Kontrollgruppe • Untersuchung der Vergleichbarkeit von Programm- und Kontrollgruppe ergab keine signifikanten Unterschiede
Datenerhebung der US Studie • Auswertung von Telefoninterviews mit Pflegebedürftigen und privaten Hauptpflegepersonen vor Projektantritt und 9 Monate nach Projektantritt • Zusätzlich Auswertung der Medicaid-Ausgabenstuktur • Ausgewertet wird die Möglichkeit ein Budget zu bekommen, nicht aber der tatsächliche Leistungsempfang (nicht alle Teilnehmer der Programmgruppe haben tatsächlich ein Budget erhalten)
Ergebnisse USA Untersuchung bezüglich: • Zufriedenheit des Pflegebedürftigen und Pflegequalität • Auswirkungen auf private Pflegepersonen
Fazit USA • Programm steigert deutlich die Zufriedenheit der Pflegebedürftigen und ihrer privaten Pflegepersonen ohne die Qualität der Pflege einzuschränken 96% aller Teilnehmer gaben an, das „Pflegebudget“-Modell weiterempfehlen zu wollen
Fazit USA / Offene Fragestellungen Fragen der Kosteneffizienz noch offen: Verzerrung der Ergebnisse durch Arbeitskräftemangel → Alle drei Staaten haben dennoch beschlossen, die Programme permanent in ihre Medicaid-Leistungen aufzunehmen
Agenda I. Problemstellung & Evaluationsdesign II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung IV. Fazit
Untersuchungsgegenstand • Verbleib in häuslicher Pflege • Entlohnung und Zeitaufwand • Zufriedenheit der Pflegebedürftigen
Teilnehmerzahlenentwicklung
Teilnehmerzahlenentwicklung Teilnehmer: 594 Aktive Teilnehmer: 412 Davon aktive Programmgruppe: 274 Davon aktive Vergleichsgruppe: 138
Gründe für die Teilnahme am Modellversuch • Individuelle Pflegearrangements sind möglich • Sachleistungen sind zu wenig flexibel • Unterstützung durch Fallmanager
Gründe für die Nicht-Teilnahme • Hauptgrund: Keine Bezahlung für Familienangehörige möglich (im Gegensatz zum Pflegegeld) • Höhere Transaktionskosten • Unsicherheit durch Zufallsauswahl
Agenda I. Problemstellung & Evaluationsdesign II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung IV. Fazit
Agenda I. Problemstellung & Evaluationsdesign II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung 1. Entlohnung und Zeitaufwand 2. Verbleib in häuslicher Pflege 3. Zufriedenheit der Teilnehmer IV. Fazit
1. Entlohnung und Zeitaufwand • Aggregation der Akteure • Deskriptive Evidenz • Erste Wirkungsergebnisse
Aggregation der einzelnen Akteure Bezeichnung Typische Akteure Beispiele Informeller Angehörige, Familie Tochter, Sohn, Ehefrau, Sektor 1 Schwiegertochter, Schwiegersohn, Neffe, Nichte, Vater. . . Informeller Freunde, Bekannte, Nachbarn, Eine gute Freundin, der Nachbar Sektor 2 Ehrenamtliche Herr X, Hand in Hand e. V. , . . . Formeller Professionelle Pflegekräfte, - Pflegefachkraft, Sektor 1 dienste, sonstige prof. Anbieter Krankenschwester, Physiotherapeut. . . Formeller Sonstige berufliche und/oder Ich-AG, Haushaltshilfe, Putzfrau, Sektor 2 kommerzielle Anbieter Frisör, Menüdienst. . .
Deskriptive Evidenz Zeit von den Sektoren / Geld an die Sektoren Durchschnittswerte Erstbefragung (n=329) Programm- und Kontrollgruppe
Der Preis der Sektoren: durchschnittliche „Stundensätze“ Erstbefragung / Programm und Vergleichsgruppe (n=329) Bezogen auf Fälle, bei denen durch einen entsprechenden Sektor Leistungen erbracht wurden.
Ermittlung der Effekte des Pflegebudgets: • Kausaler Effekt: Wobei: D=1 Person in Programmgruppe D=0 Person in Kontrollgruppe Abhängige Variable im Fall des Budgetbezugs Abhängige Variable ohne Pflegebudget
Ermittlung der Effekte des Pflegebudgets: • Kausaler Effekt: Wobei: D=1 D=0 Evaluationsproblem: Person in Programmgruppe Fall des Programmteilnehmers, der kein Person in Kontrollgruppe Pflegebudget bezieht, ist kontrafaktisch. Abhängige Variable im Fall des Budgetbezugs Abhängige Variable ohne Pflegebudget
Lösungsansatz: Annahme gültiger Randomisierung • Im Fall eines sozialen Experiments wie des Pflegebudgets gilt: Annahme: (Randomisierung)
Wirkungsergebnisse 1: Entlohnung und Zeitaufwand der Angehörigen • Pflegende Angehörige erhalten pro Woche rund 30€ weniger als pflegende Angehörige in der Vergleichsgruppe. • Möglicherweise beziehen Angehörige der Kontrollgruppe weiterhin Pflegegeld. • Kein Unterschied im Zeitaufwand
Wirkungsergebnisse 2: Entlohnung & Zeitaufwand Pflegepersonal • Entlohnung des Pflegepersonals in der Programmgruppe niedriger als in der Kontrollgruppe • Pflegepersonal wird in der Programmgruppe vier Stunden mehr pro Woche in Anspruch genommen Hinweis auf steigende Kosteneffizienz der professionellen Hilfe
2. Verbleib in häuslicher Pflege • Bisher konnte kein signifikanter Unterschied zwischen Teilnehmer- und Vergleichsgruppe gefunden werden. Grund: – Kürze des Erhebungszeitraumes – Geringe Fallzahlen
3. Zufriedenheit der Teilnehmer • Fragenspektrum – Zufriedenheit hinsichtlich folgender Aspekte: Allgemeine Versorgung Unterstützung durch Freunde Lebensqualität/Wohlbefinden allgemein Möglichkeiten, Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen Zur Verfügung stehende Kontaktmöglichkeiten zu anderen Beförderungsmittel Menschen Persönliche Beziehungen Gesundheitliche Situation Fähigkeit, alltägliche Dinge zu erledigen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Unterstützung durch Familie Sich selbst Finanzielle Situation Schlaf
Verwendete Skala • Skala von 1 bis 7, wobei: Völlig Teils/teils Völlig unzufrieden 1 zufrieden 2 3 Negative Bewertungen 4 5 6 7 Positive Bewertungen
Zufriedenheit mit Lebensqualität/Wohlbefinden allgemein: Erstbefragung vs. Folgebefragung
Zufriedenheit mit der allgemeinen Versorgung: Erstbefragung vs. Folgebefragung
Ermittlung der Effekte des Pflegebudgets auf Zufriedenheitsvariablen • Problem bei der Ermittlung des kausalen Effekts: Die Annahme ist im Fall der Zufriedenheitsvariablen kritisch.
Lösung des Problems der Randomisierung • Annahme: Unterschiede zwischen Programm- und Kontrollgruppe sind über die Zeit konstant Wobei: Differenz der. Person in Programmgruppe Differenz der D=1 Erwartungswerte D=0 Person in Kontrollgruppe der Programmgruppe der Kontrollgruppe Abhängige Variable im Fall des Budgetbezugs Abhängige Variable ohne Pflegebudget
Differenz-von-Differenzen Schätzung • Kausaler Effekt: Wobei: D=1 Person in Programmgruppe D=0 Person in Kontrollgruppe Abhängige Variable im Fall des Budgetbezugs Abhängige Variable ohne Pflegebudget
Differenz-von-Differenzen Schätzung Variable Zufriedenheit mit der allgemeinen Versorgung Zufriedenheit mit Lebensqualität/Wohlbefinden allgemein Di. D 0. 171 0. 147 Zufriedenheit mit finanzieller Situation Zufriedenheit mit Kontaktmöglichkeiten zu anderen Menschen Zufriedenheit mit Wohnbedingungen 0. 401 0. 963 -0. 557
Agenda I. Problemstellung & Evaluationsdesign II. Erhobene Daten III. Erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung IV. Fazit
Fazit • Dass der Kunde über sein Pflegearrangement selbst entscheidet und selbst zahlt, ist ein Systemwechsel • Status quo: Staat legt Sachleistungskatalog fest und zahlt an Pflegedienste • Pflegeanbieter haben sich auf bestehende Institutionen eingestellt, befürchten Existenzverlust durch Pflegebudget
• Bisher keine Evidenz zu dynamischer Kosteneffizienz • Höhere Zufriedenheit der Pflegebedürftigen ist auch Hinweis auf höhere Pflegequalität
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Anhang
ANHANG Art der Unterstützung Leistungen im Überblick PS 1 PS 2 Sachleistungen 384 921 1432 Geldleistungen 205 410 665 1432 384 921 1432 Kurzzeitpflege 1432 Pflegeheim 1023 1279 1432 Ersatz Pflege Teilst. Tag/Nacht Pflege (Alle Beträge in Euro) PS 3 Härtefall 1918 1688
ANHANG Zufriedenheit der Teilnehmer Zufriedenheit mit Lebensqualität / Wohlbefinden Antworten PG KG Gesamt 153 59 213 Differenz durch fehlenden Eintrag der Gruppe im Allgemeinen: Zufriedenheit mit Möglichkeiten, 149 55 205 Differenz durch Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen fehlenden Eintrag der Gruppe Zufriedenheit mit der allgemeinen Versorgung 209 79 289 Differenz durch fehlenden Eintrag der Gruppe
Evaluation Entlohnung & Zeitaufwand
Differenz-von-Differenzen Schätzung Variable Zufriedenheit mit der allgemeinen Versorgung Verzicht auf dringend benötigte Hilfen Di. D 0. 171 -0. 027 Zufriedenheit mit Lebensqualität/Wohlbefinden allgemein 0. 147 Einschätzung der Hauptpflegeperson über Lebensqualität 0. 145 Zufriedenheit mit zur Verfügung stehenden Beförderungsmitteln 0. 058 Zufriedenheit mit persönlichen Beziehungen -0. 023 Zufriedenheit mit Fähigkeit, alltägliche Dinge zu erledigen -0. 049 Zufriedenheit mit Unterstützung durch Familie 0. 312 Zufriedenheit mit finanzieller Situation 0. 401 Zufriedenheit mit Unterstützung durch Freunde 0. 838 Zufriedenheit mit Möglichkeiten, Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen 0. 149 Zufriedenheit mit gesundheitlicher Situation 0. 304 Zufriedenheit mit Kontaktmöglichkeiten zu anderen Menschen 0. 963 Zufriedenheit mit Schlaf 0. 301 Zufriedenheit mit sich selbst 0. 373 Zufriedenheit mit Teilnahme am gesellschaftlichen Leben 0. 872 Zufriedenheit mit Wohnbedingungen -0. 557
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