Psychische Belastungen und Gesundheit im Beruf Bad Mnstereifel
Psychische Belastungen und Gesundheit im Beruf“ Bad Münstereifel, 31. Mai 2012 Nacht- und Schichtarbeit THUMEDI Präventionsmanagement Gmb. H PD Dr. med. Annelore Seibt Straße der Freundschaft 68 09419 Thum-Jahnsbach pm@thumedi. de Service-Telefon (037297) 79 05
Übersicht Ø Problemlage aus Sicht des Betriebsarztes Ø Belastungs-Beanspruchungs-Modell als Handlungsgrundlage zu Prävention und Intervention Ø Fallbeispiele: Schichtarbeits-Stressoren im Dreiebenenmodell psychischer Belastungen Ø Ausblick 2
Glücklich, wer die Gründe der Dinge zu erkennen vermag! Nacht- und Schichtarbeit war und ist Gegenstand umfangreicher wissenschaftlicher Untersuchungen, aber Ø Komplexität der Thematik Ø Vielfalt zusätzlicher Einflussfaktoren Ø Einfluß positiver Selektion Ø Schwierigkeiten bei Arbeitszeitgestaltung in KMU Ø „Kunden-orientierte“ Arbeitszeiten im Dienstleistungsbereich Ø zu wenig Aussagen zum Erholungswert arbeitsfreier Zeit erschweren die Praxisumsetzung der Ergebnisse. 3
„Diese Zeitspanne von 24 Stunden, die entsteht durch die regelmäßige Drehung der Erde, an der all ihre Bewohner teilhaben, tritt im Körperhaushalt des Menschen besonders deutlich zutage. . . Sie ist gewissermaßen die Einheit unserer natürlichen Chronobiologie. “ (C. W. Hufeland, 1798) 4
Tageszeitlicher Verlauf der physiologischen Leistungsbereitschaft Prozentuale Abweichung vom Tagesdurchschnitt (nach Graf 1961) 5
Belastungs-Beanspruchungskonzept für Schichtarbeit Beanspruchung Belastung Verschiebung d. Phasenlage von Arbeit und Schlaf intervenierende Faktoren mögliche Folgen 10 - 15% der Arbeiter, die Schichtarbeit mit Nachtarbeit aufnehmen, kompensieren die daraus resultierende Beanspruchung nicht. - persönliche - arbeitsbezogene - umweltbezogene - familiäre (nach Knauth und Hornberger, 1997) 6
Biologische Desynchronisation Ø Der Mensch ist tagaktiv. (Leistungsabgabe am Tag und Erholung in der Nacht) Ø Helles Licht ist ein dominierender Zeitgeber. Ø Nachtarbeit führt zur Verschiebung der Phasenlage von Arbeit und Schlaf. Ø Eine vollständige Inversion des Zirkadianrhythmus an diese veränderten Leistungsbedingungen gelingt nicht. Ø „Inversionsversuche“ (ab der 3. Nachtschicht) führen zu Befindlichkeitsstörungen. Ø Arbeitsfreie Tage unterbrechen mögliche Teilanpassungen. 7
Welcher Typ sind Sie? Parameter des circadianen Systems weisen interindividuelle Unterschiede auf: Ø Morgen-Typen (Lerche) frühe circadiane Phasenlage, kürzere Circadianrhythmik, ausgeprägte Maxima und Minima im Leistungsund Erholungsverhalten. Ø Abend-Typen (Eule) längere endogen gesteuerte Rhythmik, weniger ausgeprägte Schwankungen - Abend-Typen kompensieren Belastungen aus Schichtarbeit besser. Ø Melatoninprofil vermutlich genetisch determiniert, langfristig stabil, individuelles Merkmal (Chronotyp). (Griefahn 2003) 8
(Griefahn 2006) 9
Dem Schlaf wird eine große Bedeutung für die Regulierung des zirkadianen Systems beigemessen! Ø Tagschlaf: kürzer, weniger erholsam. (zirkadianrhythmische Einflüsse – Lärm - Klima) Ø Tagschlaf kann normalen Nachtschlaf nur ergänzen, niemals vollwertig ersetzen. Ø Die meisten Schichtarbeiter leiden unter chronischen Schlafmangel. Ø Früher Arbeitsbeginn bei Frühschicht kann die Schlafdauer zusätzlich reduzieren. 10
Soziale Desynchronisation = Diskrepanz zwischen der durch Schichtarbeit bestimmten Lebensweise des Einzelnen und den zeitlichen Gewohnheit der Gesellschaft Ø Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist erschwert. Ø Familienleben erfordert besondere organisatorische und arbeitsteilige Regelungen. Ø Störungen des sozialen Lebens haben große Bedeutung für mögliche gesundheitliche Beschwerden. Ø Spätschicht und Wochenendarbeit wirken sich besonders negativ auf die Lebensqualität aus. 11
Chronische Beeinflussung der Gesundheit Ø größere Häufigkeit von gastrointestinalen Erkrankungen bei Nacht- und Schichtarbeitern und ehemaligen Schichtarbeitern Ø um 30 – 50% erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen bei Nachtarbeitern Ø Schlafprobleme haben 95% der Wechselschichtarbeiter mit Nachtschicht beachten: zusätzliche Wirkung von psychischen Faktoren, selbstempfundenem Stress, arbeitsbedingten und sozialen Einflüssen 12
Schichtarbeit und Lebensalter Ø Junge Arbeitnehmer bevorzugen Schichtarbeit wegen guter Verdienstmöglichkeiten und hoher Freizeitdisponibilität. Ø Arbeitnehmer mit Familie und Kindern fühlen sich durch Schichtarbeit stärker belastet. Ø Spätschicht (soziale Desynchronisation) wird als Stressor unterschätzt (Angebotsuntersuchung) Ø Ältere Arbeitnehmer mit langjähriger Schichtarbeitserfahrung haben ihren Lebensrhythmus auf Schichtarbeit eingestellt. 13
Präventive und kompensatorische Maßnahmen Ø arbeitswissenschaftlich begründete Schichtplangestaltung Ø betriebsärztliche Beratung und Vorsorge Ø Vermeidung von arbeitsbedingten Mehrfachbelastungen Ø beanspruchungsadäquate Arbeitspausen Ø ernährungswissenschaftlich sinnvolles Angebot in der Betriebskantine Ø gute Bedingungen für Tagschlaf Ø Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen für berufliche Fortbildung Ø Konditionstraining, Verhaltensprävention, Stressbewältigung 14
Arbeitswissenschaftliche Kriterien zur Schichtplangestaltung Welche Faktoren sind zu berücksichtigen? Ø „Anpassungsversuche der Inneren Uhr“ minimieren (Im allgemeinen kommt es ab der 3. Nachtarbeit zu Befindlichkeitsstörungen. ), Ø „soziale Zeit“ optimieren (Kurzfristige Schichtplanänderungen erschweren z. B. Freizeitaktivitäten. ), Ø Bedeutung des Schlafes für Gesundheit und Leistungsfähigkeit berücksichtigen. (Chronischer Schlafmangel wirkt negativ auf Motivation, Konzentration, Leistung, Gesundheit. ) 15
Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen zur Schichtplangestaltung Ø nicht mehr als drei Nachtschichten hintereinander Ø schnelle Rotation von Früh- und Spätschichten Ø Frühschichtbeginn nicht zu früh Ø keine Massierung von Arbeitszeiten Ø Vorwärtswechsel der Schichten Ø geblockte Wochenendfreizeit Ø ungünstige Schichtfolgen vermeiden Ø Länge der Schichten der Arbeitsbelastung anpassen Ø kurzfristige Schichtplanänderungen durch Arbeitgeber vermeiden Ø mind. ein freier Abend/Woche von Montag bis Freitag Ø mitarbeiterorientierte Flexibilität und Individualisierung der Arbeitszeit Akzeptanz beachten! 16 (nach Knauth 2002)
Was ist bei der Einführung eines neuen Schichtsystems zu beachten? Ø Die frühzeitige und aktive Einbeziehung der Schichtarbeiter in die Neugestaltung eines Schichtplanes ist wesentlich für dessen Akzeptanz! Ø Eine erfolgsorientierte Einführungsstrategie kann einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren umfassen! 17
Fallbeispiele aus Vorsorgeuntersuchungen und Projekten des ASD*BGN zu Ø „Schichtarbeit in Gastronomiebetrieben“ Ø „psychogene Verursachung von Rückenschmerzen“ Ø z. Zt. Schichtarbeitslängsschnitt im Vergleich 12 - Stundenschichten zu klassischem Dreischichtsystem 18
Fallbeispiel 1: Psychische Beanspruchung durch Alleinverantwortung im Nachtdienst Ø 21 -jährige Service-Agentin in einem größeren Hotel, Ø Aufgaben: Annahme, Bearbeitung, Weiterleitung von Anfragen / Wünschen der Gäste und Rundgänge im Bürobereich des Hotels Ø In der Tagschicht gemeinsam mit 3 Kolleginnen Ø Die zeitlichen Verläufe des muskulären Verspannungsrisikos der Schulter. Nackenmuskulatur zeigen im Mittel niedrige Werte – siehe beispielhaft vier Arbeitstage 19
Messungen während Tagdiensten Messungen während Nachtdiensten 20
Fallbeispiel 1 - Fortsetzung Messungen während des Nachtdienstes: Ø Verspannungsrisiko auf hohem Niveau, obwohl vergleichbares Aufgabenspektrum und gleiche physische Belastung im Tag- und Nachtdienst Ø Das erheblich höhere muskuläre Verspannungsrisiko ist mit hoher Wahrscheinlichkeit psychogen verursacht. Ø Patientin gibt Angststörungen und nachfolgend Depressionen wegen „Alleinverantwortung“ in der Nachtschicht an. 21
Fallbeispiel 2: Psychische Beanspruchung durch zu frühen Arbeitsbeginn Ø 50 -jährige Angestellte in größerem Hotel Ø tätig in Service-Express, Telefonzentrale, Azubi-Ausbildung Ø Arbeitsbeginn in Frühschicht 6: 00 Uhr Ø Fahrzeit Wohnung / Betrieb: mind. 1 Stunde „Der Wecker klingelt um 4: 00 Uhr! Ich bin ein Abendtyp! In der Frühschicht bin ich zum Wegwerfen!“ 22
Fallbeispiel 3: Psychische Beanspruchung durch drohenden Arbeitsplatzverlust Ø 53 -jährige Kinderkrankenschwester, tätig in Dauernachtschicht in Kinder-Reha- Klinik Ø arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung: Diabetes mellitus – Ist eine Weiterbeschäftigung in Nachtarbeit möglich? Ø Rücksprache Betriebsarzt mit Diabetologen: Arbeitsplatzverlust, verbunden mit sozialen Konsequenzen, würde das Krankheitsbild stärker belasten als weitere Tätigkeit in Nachtarbeit. tauglich unter bestimmten Voraussetzungen 23
Fallbeispiel 4: Psychische Beanspruchung wg. Zeitmangel für Familie Wunsch nach 12 Stunden-Arbeitsschichten Ø 27 -jährige Altenpflegerin, verheiratet, 3 -jähriges Kind Ø tätig in der Intensivpflege (24 Stunden-Betreuung durch ambulanten Pflegedienst), Ø wochentags je 5 Tage mit 8 - Std. - FS/SS/NS; Wochenende: je zwei 12 -Stundenschichten Wunsch nach ständig (auch wochentags) 12 -Stunden. Schicht, danach zusammenhängende Freizeit mehr Zeit für Familie! Pflegedienstleitung stimmt zu (Zustimmung der Arbeitsschutzbehörde) hohe Arbeitszufriedenheit! 24
Fallbezogene Schichtarbeitsstressoren im Dreiebenenmodell psychischer Belastungen im Betrieb – Möglichkeiten der Intervention Fall Stressor Ebene/Mitwirk. Intervention Fall 1 Verantwort. NS MA/BA Psychotherapie Fall 2 Chronotyp MA/UN indiv. AZ (SS) Fall 3 Indiv. Einzellfall MA/BA/(UN) NS-untauglich? Fall 4 Zeit für Familie? UN/Gesellsch. 12 -Std. AS MA = Mitarbeiter BA = Betriebsarzt UN = Unternehmen AS = Arbeitsschicht SS = Spätschicht NS = Nachtschicht 25
Zielstellung: Maßgeschneiderte Schichtpläne Betriebliche Ziele Wünsche der Mitarbeiter Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen 26 Quelle: Knauth et al. , 2003
Ausblick: Je individueller die Arbeitszeit für den Mitarbeiter gestaltet werden kann, desto besser ist die Wirkung auf Ø Arbeitszufriedenheit, Ø psychische Belastungen Ø Gesundheit, Ø Leistungsfähigkeit und –bereitschaft! 27
- Slides: 27