Prof Dr Andr Wolter Der bergang Schule Hochschule
Prof. Dr. Andrä Wolter Der Übergang Schule - Hochschule Einführungsreferat für die Tagung „Übergang Schule – Hochschule” des Oberstufenkollegs an der Universität Bielefeld am 15. und 16. März 2007 1
Was zeichnet Übergänge im Bildungssystem oder zwischen Bildung und Beschäftigung aus? (1) Übergänge sind individuelle Statuswechsel. (2) Übergänge verknüpfen Institutionen miteinander („Knotenpunkte“). (3) Übergänge sind „Interaktionsstellen“: Der Wandel einer Institution hat Konsequenzen für die andere. (4) Übergänge sind mit (Laufbahn-)Entscheidungen verbunden. (5) Übergänge sind sozial/institutionell normiert. (6) Übergänge sind individuell zu bewältigen („coping“). (7) Übergänge haben meist weitreichende biographische Folgen („Weichenstellungen“). 2
Übergänge als Thema der Bildungsforschung (1) Übergänge können von der Institution (Regulierung) oder vom Individuum (Bewältigung, Biographie) her betrachtet werden. (2) Übergänge können mehr quantitativ („Ströme“) oder qualitativ (Anforderungen und Voraussetzungen) betrachtet werden. (3) Übergänge können von der „abgebenden“ oder „aufnehmenden“ Institution her betrachtet werden. (4) Übergänge können von der sozialen Nachfrage, vom Angebot oder vom Bedarf her betrachtet werden. 3
Zentrale Fragestellungen von Übergangsforschung (1) Übergänge als „Verteilerstellen“: Strukturen, Vielfalt der Optionen, Verbleib und Mobilität (2) Formale und tatsächliche Durchlässigkeit, soziale Strukturierung von Übergängen (3) Abstimmung, Pass-/Anschlussfähigkeit zwischen abgebender und aufnehmender Einrichtung (Studierfähigkeit, „employability“) (4) Rückwirkungen institutionellen Wandels, erwünschte und -erwünschte (Neben-)Folgen auf den Hochschulzugang Studienvorbereitung nicht und die (5) Individuelle Strategien und Schwierigkeiten, individueller Erfolg (6) Verhältnis von Nachfrage, Angebot und Bedarf 4
Bildungspolitische Prominenz des Übergangs Schule - Hochschule (1) Anders als andere hochschulpolitische Themen zieht sich das Thema „Hochschulzugang“ in Wellen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Geschichte der Bildungspolitik hindurch. (2) Ein Hauptproblem der deutschen Bildungspolitik (z. B. bei der Oberstufenreform) besteht darin, dass sie kein historisches Gedächtnis hat und oft eher im Kreis verläuft. 5
(3) Gründe für die historische Kontinuität des Hochschulzugang als bildungspolitisches Thema ► Hochschulzugang ist eng mit dem Selbstbild und der Funktion der Universität in der Gesellschaft verbunden (Trow: “from elite to mass to universal higher education“). ► Die deutsche Universität hat sich nicht primär als Ausbildungs-, sondern als Forschungseinrichtung verstanden. ► Übergangsstellen sind strategische Ansatzpunkte für quantitative und soziale Steuerung. ► Interessenskonflikt zwischen Limitierung und Ausweitung von sozialen Chancen an der Schwelle des Hochschulzugangs ► Instrumentalisierung des Fähigkeitsarguments für soziale Interessen 6
Traditionelle Konstruktionsprinzipien des Hochschulzugangs in Deutschland (1) Steuerung über Schulabschlüsse (nicht über Zulassung) (2) Hochschulzugang als staatliche Aufgabe (3) Selektion erfolgt primär im Schulsystem (weniger beim Hochschulzugang) (4) Arbeitsteilung zwischen Schule („Lieferant“) und Hochschule („Abnehmer“) (5) Doppelfunktion der Hochschulreife: Berechtigung u. Eignungsfeststellung (6) Geringe institutionelle Verantwortlichkeiten (bei hoher individueller Entscheidungsautonomie) (7) Prinzip der allgemeinen (einheitlichen) Hochschulreife 7
Zentrale Fragestellungen von Übergangsforschung (1) Übergänge als „Verteilerstellen“: Strukturen, Vielfalt der Optionen, Verbleib und Mobilität (2) Formale und tatsächliche Durchlässigkeit, soziale Strukturierung von Übergängen (3) Abstimmung, Pass-/Anschlussfähigkeit zwischen abgebender und aufnehmender Einrichtung (Studierfähigkeit, „employability“) (4) Rückwirkungen institutionellen Wandels (erwünscht, unerwünscht) (5) Individuelle Strategien und Schwierigkeiten, individueller Erfolg (6) Verhältnis von Nachfrage, Angebot und Bedarf 8
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Durchlässigkeit zwischen Schule und Hochschule (1) Die Ungleichheitsforschung hat an methodischer Tiefenschärfe gewonnen (z. B. bei der Messung des sozio-ök. Hintergrunds o. der „abhängigen“ Variablen). (2) Differenzierung zwischen primären und sekundären Ungleichheitseffekten (3) Es bestätigen sich immer wieder die schon seit längerem bekannten grundlegenden sozialen Mechanismen und Strukturen. (4) Zwei Prozesse sind zu unterscheiden: - soziale Selektion auf dem Wege zum Abitur, - soziale Selektivität des Übergangs zur Hochschule. (5) Studien zum Übergang Schule – Hochschule haben es bereits mit einer hochgradig vorgefilterten Population zu tun. 11
Durchlässigkeit zwischen Schule und Hochschule II (6) Trotz einer leichten Verringerung der Ungleichheit in den Abitur-/Studierchancen zeigt sich unverändert ein hohes Maß an sekundären Ungleichheitseffekten (Studienaufnahme, Fachwahl, Hochschulwahl). (7) Deutschland im internationalen Vergleich: niedrige Anfängerquote bei hoher sozialer Ungleichheit. (8) Hohe Attraktivität der beruflichen Bildung als alternatives „Sicherheitsnetz“ für hochschulferne soziale Gruppen. (9) Die „Ausschöpfung“ hochschulnaher sozialer Gruppen bei der Studienbeteiligung scheint einen Gipfel („ceiling“) zu erreichen. 12
Soziale Herkunft der Studierenden in Deutschland – Kontrastgruppenvergleich 1911 bis 2003 (in %) Väter mit Hochschulabschluss (nur Universitäten) 1911 1924 1939 1951 1959 1963 1967 23 23 22 27 29 34 34 34 1976 1979 1985 1992 1995 1998 2000 2003 44 46 42 50 53 59 61 58 Arbeiterkinder (alle Hochschulen) 1911 1924 1939 1951 1959 1963 1967 3 2 2 2 3 3 6 7 1976 1979 1985 1992 1995 1998 2000 2003 13 14 16 15 15 14 13 17 Quelle: 1911 bis 1959: Kaelble 1974; 1963 bis 1979: DSW; ab 1985: HIS 2005 (Studienanfängerbefragungen) 13
Demographie und Bildungsbeteiligung im Jahr 2000 nur Deutsche, alte Länder, absolut und in % 14
Studierbereitschaft nach Subgruppen 2002, Freistaat Sachsen Studierneigung alle = 70, 7% Hoher Leistungsstand 82, 0% Akademikerfamilie 88, 7% Hoher Berufsstatus 91, 0% Niedriger Berufsstatus 81, 5% Niedriger Leistungsstand 60, 0% Nichtakademikerfamilie 74, 6% Hoher Berufsstatus 77, 4% Niedriger Berufsstatus 70, 9% Akademikerfamilie 66, 9% Hoher Berufsstatus 70, 5% Niedriger Berufsstatus 58, 6% Nichtakademikerfamilie 55, 7% Hoher Berufsstatus 58, 7% Niedriger Berufsstatus 53, 4% Quelle: Studienberechtigtenbefragung TU Dresden 2002 15
Zusammensetzung der deutschen Studienanfänger(innen) nach Art der Studienberechtigung/Vorbildung, 2003 (in %) 16
Non-traditional routes to higher education (in % of all new entrants) Quelle: Eurostudent 2005 17
Ansätze der Studierfähigkeitsforschung in Deutschland (1) Normativ: Welche Anforderungen sind an die Einrichtungen der schulischen Studienvorbereitung, insbesondere die gymnasiale Oberstufe zu richten? → Materiale vs. formale („geistige Kräfte“) Bildung → Kerncurriculum/obligatorischer Bereich vs. individuelle Wahl → Fächerübergreifende Anforderungen → Fachliche und überfachliche Kompetenzen → Was heißt „Wissenschaftspropädeutik“? (2) Verfahren/Wege zur Identifikation solcher Anforderungen → Bildungstheoretische „Deduktion“, curriculare Traditionen → Identifikation/Verständigung über basale/r Fähigkeiten → Befragungen von Fachvertretern/Fachanalysen → Empirische Anforderungs-/Kompetenzanalysen des Studiums (3) Empirische Forschung über „Stand“ oder Defizite der Studierfähigkeit 18
Worauf beruht unser empirisches Wissen über Studierfähigkeit? (1) Skandalisierung durch feuilletonistische Beschreibungen (2) Professorenbefragungen (zuletzt Konegen-Grenier 2001) (3) Studierendenbefragungen, Studienverlaufsanalysen (HIS) (4) Fachbezogene, meist lokale Studienanfängertests (5) Evaluation von Studierfähigkeitstest (ITB: TMS, TAB) (6) Punktuelle kompetenzbasierte Untersuchungen (z. B. TIMSS, TOSCA) è Defizit bis heute: Kompetenzorientierte Messung è Hauptproblem: Identifikation der relevanten Komponenten è Aufgabe/Chance für ein nationales Bildungspanel? 19
Beobachtungen zur Studierfähigkeitsdebatte (1) Enders/Teichler (1995): Mehr als 60 % der Uniprofs. halten eine altersbezogene Studierquote von 20 % für ausreichend (1995: 28 %, 2006: 35 %). (2) Die Studierfähigkeitsdebatte ist auch eine kritische Reaktion auf die Bildungsexpansion. (3) International gibt es keinen Zusammenhang zw. Studienberechtigten-/ Studierquote u. Qualität studienvorbereitender/akademischer Einrichtungen. 20
Beobachtungen zur Studierfähigkeitsdebatte II (4) Beim Übergang Schule-Hochschule gibt es auch Prozesse der Selbstselektion nach Leistung. (5) Die Aufgabe der gymnasialen Oberstufe erschöpft sich immer weniger in der Vermittlung der Studierfähigkeit bzw. Studienberechtigung. (6) Die Spannung zw. der gymnasialen Oberstufe u. der Entwicklungsdynamik des Hochschulsystems (Differenzierung, Spezialisierung) wird zunehmen. 21
What is going on in German higher education? „Baustellen“ und Umbrüche in der Hochschulentwicklung (1) Quantitative Entwicklung: Explosion der Studierendenzahlen? (2) Institutionelle Differenzierung und Exzellenzdebatte (3) Studienreform im Zeichen des Bologna-Prozesses (4) Implementation des neuen Steuerungsmodells zur Stärkung der institutionellen Verantwortlichkeit (5) Re-föderalisierung der staatlichen Hochschulpolitik ► Frage: Was bedeutet das für den Hochschulzugang? 22
Mögliche Konsequenzen für den Hochschulzugang Zu 1. ) Offenes Hochschulsystem oder weitere Verschließung? Zu 2. ) Koexistenz eines offenen und geschlossenen Sektors? Profilbildung und Hochschulzulassung mit Auswahlverfahren? Mehr Konvergenz oder Divergenz? Zu 3. ) Direkt: Anerkennung von „prior learning“ (LLL); indirekt: veränderte Anforderungen an Studierfähigkeit Zu 4. ) Stärkung der Hochschulen als Auswahlinstanz im Zeichen der Autonomie? Ambivalente Wirkungen indikatororientierter Mittelverteilung (Studiengebühren)? Zu 5. ) Vergrößerung der Vielfalt oder latente Konvergenz? 23
Hochschuleigene Auswahlverfahren - Bildungspolitische Anlässe (1) (2) (3) (4) Zweifel an der Qualität des Abiturs infolge Oberstufenreform Klagen aus den Hochschulen über Studierfähigkeitsdefizite Unzufriedenheit mit ZVS und zentralen Auswahlverfahren Effektivitätsprobleme der Hochschulen: Verschärfung der „Hochschulmisere“ durch Fehlallokation (5) Stärkung der institutionellen Verantwortung / Selbststeuerungsfähigkeit der Hochschule (NSM) (6) Wechsel des hochschulpolitischen Leitbildes: Von der Chancengleichheit zum Wettbewerb (7) Vorbild privater Hochschulen 24
Auswahlverfahren im deutschen Hochschulsystem (1) Traditionell bestimmte Fächer / Hochschulen private Hochschulen Sonderzugangswege für Berufstätige (2) Studiengänge im ZVS-Auswahlverfahren (bisher 24%) (3) HRG (seit 2004): nach Sonderquoten 20 : 60 -Quotenmodell (4) Erweiterte Regelungen in einigen Bundesländern bei lokalem NC (5) Zugang zum Masterstudium 25
Funktionen hochschuleigener Auswahlverfahren (1) Limitierung: quantitative Begrenzung (2) Assessmentfunktion: „Besten“auswahl nach Qualitätskriterien mit eignungsdiagnostischen Verfahren, Studierfähigkeit verbessern (3) Marktsteuerung: Stimulierung des Wettbewerbs zwischen Studierenden und Hochschulen (4) Profilbildung: „Passfähigkeit“ zwischen Anforderungen und Voraussetzungen (5) Allokationsfunktion: Optimierung der Entscheidung über Hochschultyp, Studienfach und Studienort (6) „Institutional empowerment“: Stärkung des institutionellen Einflusses der Hochschule 26
Auswahlverfahren – gegenwärtiger Stand (Anteil an allen Studiengängen mit Auswahlverfahren, n = 4213) (1) Durchschnittsnote Abiturzeugnis 81, 4% (2) Wartezeit 37, 1% (3) Nachweis beruflicher Erfahrungen 21, 1% (4) Eignungsprüfungen 19, 2% (5) Fachnoten 17, 7% (6) Interviews, Auswahlgespräche 8, 1% (7) Begründungsschreiben 5, 1% (8) Studierfähigkeitstests 4, 3% 27
Auswahlverfahren – Was sagt die empirische Forschung? (1) Abiturdurchschnittsnote: bester Einzelprädiktor (2) Fachnoten: geringere Validität (3) Studierfähigkeitstest: hohe prognostische Validität, in Kombination mit Abiturnote bester Prädiktor (4) Bewerbungsschreiben: geringe Validität (5) Auswahlgespräche: mäßige Validität, aber andere Vorteile Bewertungskriterien: 1. Prognostische Validität 2. Aufwand und „Mehrwert“ 3. Strategische Eignung 28
Individuelle Übergangsprobleme -> „gestörte“ Allokationsfunktion des Hochschulzugangs (1) Allokation: Studien- und Berufswahl, Studienentscheidung bzw. Studienverzicht, Hochschultyp, Studienfach, Hochschulort (2) „Suboptimale“ Allokation? ► Informations- und Orientierungsdefizite, Entscheidungsunsicherheit, Kriterienmangel: Nur 1/3 der Anfänger fühlt sich gut vorbereitet, 1/3 teils/teils, 1/3 unzureichend ► Langfristig rückläufige Entwicklung der Studierbereitschaft, prozyklische Studienentscheidungen ► Schwundquoten/Fluktuation im Studienverlauf: in hohem Maße durch unzureichende Allokation verursacht ► Geringe Akzeptanz der Beratungsangebote: Diskrepanz Nutzung und Nützlichkeit 29
Anteil der Hochschulabsolventen an der Bevölkerung in ausgewählten OECD-Ländern (2003) 30
Entwicklung der Zahl der Studienanfänger/innen von 1950 bis 2005 in der Bundesrepublik Deutschland 1) insgesamt und nach Hochschulart 1) bis 1992 nur alte Länder 31
KMK-Prognose der Studienanfängerzahlen bis 2020 nach Übergangsquoten 32
Prognoserisiken (1) Studierbereitschaft, Übergangsquote (2) Ausweitung von Zulassungsbeschränkungen, Studienplatzvernichtung? (3) Akzeptanz der neuen Studiengänge (4) Konjunkturen des Arbeitsmarktes (Ingenieure!) (5) Studienfinanzierung (6) Wachsende Konkurrenz zwischen Berufsausbildung und Hochschule um Nachwuchs 33
Übergangsquoten zur Hochschule insgesamt und nach Geschlecht 34
Schlussfolgerungen: Worin bestehen die wichtigsten Aufgaben zur Realisierung einer höheren Absolventenquote? (1) Höhere Studier-/Übergangsquote: mehr junge Leute zum Studium bringen (2) Größere Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule (3) Mehr Studienanfänger/innen zum Studienerfolg führen (4) Optimierung des Hochschulzugangs als Allokationsprozess („Passfähigkeit“) (5) Bessere Studienvorbereitung vor allem im wissenschaftspropädeutischen Bereich (6) Erweiterung der Studienplatzkapazitäten an den Hochschulen (7) Hochschulzugang als gemeinsame Aufgabe von Schule und Hochschule begreifen und nicht als „Schuldzuweisungskette“ 35
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