Physische Geographie und Humangeographie eine schwierige Beziehung Skeptische
Physische Geographie und Humangeographie – eine schwierige Beziehung. Skeptische Anmerkungen zu einer Grundfrage der Geographie und zum Münchner Projekt einer „Integrativen Umweltwissenschaft“ Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien Münchner Symposium zur Zukunft der Geographie, 28. April 2003 P 206/PHum 01
Gliederung • Das Programm und die Zielsetzung der „Reintegrationsprojekte“ • Methodologische, epistemologische, ontologische und pragmatische Begründungen für die Auflösung der „Einheitsgeographie“ • Pragmatische und forschungspolitische Hindernisse einer Reintegration • Zentrale Probleme einer „Gesellschaft-Umwelt. Forschung“ • Lösungsansätze anderer Disziplinen P 206/PHum 02
„Reintegration“ als Programm Das gesamte Fach Geographie solle sich als Geowissenschaft positionieren; Begründung: global wirksamer und dominanter Einfluss des Menschen auf das Ökosystem Erde („Anthropozän“); Besinnung auf die „gemeinsame Mitte“, die „Schnittstelle Mensch – Natur“, sei dringend geboten. Die fachliche Einheit sei ein Wesensmerkmal der Geographie und dürfe nicht aufgegeben werden. W. D. BLÜMEL, 2003, S. 7/8 P 206/PHum 03
Wodurch wird die Reintegration verhindert? Durch „ideologische Hemmnisse“ in den eigenen Reihen, durch „fachinterne Apartheid“, durch „ideologisch motivierte Spaltung“. „Das Trauma der Spaltung und Zerschlagung eines Faches, das sich einst als Einheit verstand und in der synthetischen Länderkunde seinen Ausdruck fand, ist noch nicht abgeklungen. “ W. D. BLÜMEL, 2003, S. 8 P 206/PHum 04
Zentrale Botschaften der „Reintegrationsprogramme“ • „Dolchstoßlegende“ oder Verschwörungstheorie; • ausschließlicher Bezug auf Konzepte der klassischen Geographie (Landschaft, synthetische Länderkunde, nomothetisch, idiographisch. . . ); • Beschwörung der Problemlösungskompetenz des Faches Geographie („Neuer Exzeptionalismus“); • der Mensch wird primär als Akteur gesehen, der (störend) in naturale Systeme eingreift. P 206/PHum 05
Vorboten der Trennung „Der Zerfall der geographischen Gesamtwissenschaft ist nicht mehr aufzuhalten, überall kracht es in ihrem Gebäude und keine Stützen werden das Zusammenbrechen hindern können. “ A. RÜHL, 1933, S. 32 P 206/PHum 06
Argumente für die Auflösung der Einheitsgeographie • Verhinderung geodeterministischer Erklärungsmodelle • Methodische Differenzen zwischen Natur- und Sozial/Geisteswissenschaften • Fundamentale Unterschiede zwischen den Grundkategorien der Weltbeschreibung in den Wissenschaftshauptgruppen • Ontologische Differenzen: POPPERs Theorie der „Drei Welten“ P 206/PHum 07
Die Emanzipation der Humangeographie nach Kiel • Zunehmende Spezialisierung • Anthropozentrierung: der Mensch selbst als handelndes Subjekt rückt immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses • Wandel der Erkenntnisobjekte: die Fragestellungen der Humangeographie entfernen sich immer weiter vom Erkenntnisinteresse der klassischen Einheitsgeographie P 206/PHum 08
Die Folgen: Der weit überwiegende Teil der aktuellen Forschungsfragen der Humangeographie orientiert sich an Erkenntnisobjekten, die mit dem klassischen Thema der Mensch-Umwelt-Interaktion nicht das Geringste zu tun haben. Dieser forschungspragmatisch fassbare Wandel der Erkenntnisobjekte muss aus heutiger Sicht als das entscheidende Hindernis für eine Reintegration angesehen werden. P 206/PHum 09
Die ursprünglichen „Trennungsargumente“ halten einer Prüfung nicht stand • Das Determinismus-Problem besteht auch bei ausschließlich sozialen Erklärungsmodellen. • Grundlegende methodische Differenzen zwischen den Wissenschaftshauptgruppen werden von der Wissenschaftstheorie nicht bestätigt. • Der Bezug auf die Drei-Welten-Theorie und die daraus abgeleiteten Folgerungen für die Geographie und die Möglichkeiten einer Mensch. Umwelt-Forschung erweisen sich als Fehlinterpretation. P 206/PHum 10
Zwischenresümee • Die faktische Trennung von Physiogeographie und Humangeographie ist forschungspragmatisch und durch die unterschiedliche Entwicklung der Erkenntnisobjekte begründet. Eine „Reintegration“ des Gesamtfaches Geographie wäre vor diesem Hintergrund völlig kontraproduktiv. • Die bisher vorgebrachten Argumente, welche die Möglichkeit einer geographischen Gesellschaft. Umwelt-Forschung verneinen, sind nicht schlagend und müssen zurückgewiesen werden. P 206/PHum 11
Modelle der Konstituierung einer „geographischen Gesellschaft-Umwelt. Forschung“ Das „Reintegrations-Modell“ Physiogeographie + Humangeographie = Gesellschaft. Umwelt. Forschung Ein „Drei-Säulen-Modell“ Physiogeographie Gesellschaft. Umwelt. Forschung Humangeographie P 206/PHum 12
Terminologisch-konzeptuelle Probleme „Die Unbekümmertheit in der Wortwahl und das mangelnde Gespür folgenreiche Theorieentscheidungen sind eines der auffälligsten Merkmale dieser (ökologischen) Literatur – so als ob die Sorge um die Umwelt die Sorglosigkeit der Rede darüber rechtfertigen könnte. “ N. LUHMANN, 1986, S. 8 P 206/PHum 13
„Natur“ versus „Kultur“ • Dichotomes ontologisches Modell der Realität; • die Elemente einer Dichotomie stehen zueinander im Verhältnis der Disjunktion. • Das Problem: Wie geht man mit hybriden Elementen der Realität um? Die Gegenstandsbereiche, deren Wechselwirkungen analysiert werden sollen, lassen sich nicht trennscharf voneinander unterscheiden. P 206/PHum 14
„Umwelt“ – ein relationaler Begriff „Umwelt“ wird von Geographen meist als Synonym für „Natur“ gebraucht. Diese Begriffsverwendung steht in eklatantem Widerspruch zu den terminologischen Konventionen der Ökologie und der Humanökologie. Hier wird Umwelt als jene Teilmenge der Außenwelt verstanden, die in direkten oder indirekten Wechselwirkungen zum jeweils untersuchten Lebewesen steht. Kultur und Gesellschaft sind bedeutsame Bestandteile der Umwelt des Menschen. P 206/PHum 15
Das Gesellschaftsverständnis der Soziologie Das Grundaxiom der Soziologie: „Soziales kann/darf nur durch Soziales erklärt werden“ (DURKHEIM/WEBER). „Gesellschaft“ wird von der gegenwärtigen Mainstream-Soziologie als rekursive symbolische Kommunikation aufgefasst. Es kann dargestellt werden, wie Gesellschaften ihr Verhältnis mit der materiellen Welt kommunikativ thematisieren, nicht aber, wie dieses Verhältnis „real“ funktioniert. P 206/PHum 16
Das Gesellschaftsverständnis einer „Integrativen Umweltforschung“ Das zentrale Problem: Verknüpfung zwischen der kulturalistisch-konstruktivistischen Gesellschaftskonzeption und einem naturalistischen Modell, das die materiellen und körperlichen Komponenten der sozialen Welt erfassen kann. Gesucht ist ein Gesellschaftsmodell, das es erlaubt, den „Zusammenhang zwischen Sinn und Materie“ (W. ZIERHOFER, 1999) darzustellen und zu analysieren. P 206/PHum 17
Fazit: • Die Geographie wäre gut beraten, den aktuellen Standard der sozialwissenschaftlich orientierten Gesellschaft-Umwelt-Forschung zur Kenntnis zu nehmen. • Das „Umweltproblem“ wird durch gesellschaftliche Prozesse verursacht und kann daher nur sozialwissenschaftlich dargestellt und gelöst werden. • Eine erfolgreiche Bearbeitung des Problems setzt die Entwicklung adäquater Konzepte und Theorien voraus. Ein Rekurs auf Konzepte der klassischen Landschafts- und Länderkunde reicht nicht aus. P 206/PHum 18
Das Modell der Gesellschaft-Umwelt-Interaktion der Gruppe „Soziale Ökologie“ (IFF) GESELLSCHAFT Natur, Ökosysteme Metabolismus Kolonisierung, Artefakte Aneignung, Arbeit Population Physisch-materielle Welt „Hybride Systeme“ Nach M. FISCHER-KOWALSKI u. H. WEISZ, 1999, verändert Kultur, Sinnkonstitution, rekursive symbolische Kommunikation „Gesellschaft“ im Verständnis der Soziologie P 206/PHum 19
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