Normalisierung in der Sozialen Arbeit Anleiter Innentag 29
„Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Anleiter. Innentag | 29. 10. 2020 | Prof. Dr. Günter Rieger | Studiengangsleiter Soziale Dienste in der Justiz | www. dhbw-stuttgart. de
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Ausgangsthese Soziale Arbeit braucht für ihr professionelles Handeln (notwendig) eine Vorstellung davon, was normal ist, und muss sich (im Interesse ihrer Klienten wie ihrer Fachlichkeit) doch vor zu viel Normalität fürchten. Seite 2
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit „normal? “ Eine irritierende Beobachtung „ “ Meine Normstudent. In Mustermannfrau Seite 3
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Normalisierung und ihre zentrale Bedeutung für die Soziale Arbeit • Soziale Arbeit ist „Normalisierungsarbeit“ (Olk 1986) bzw. „sekundäre(. ) Normalisierung“ (Böhnisch/Schefold 1985) vs. • „Normalisierung Sozialer Arbeit“ (Lüders/Winkler 1992) (vgl. Seelmeyer 2008: S. 11/S. 165) Seite 4
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Zur Begriffsgeschichte „Während um 1820 noch niemand im Alltag hätte sagen oder verstehen können: ´Das finde ich (nicht) ganz normal´, hatte sich diese Redeweise fünfzig Jahre später ´durchgesetzt´“ (Link 1999 nach Seelmeyer 2008: S. 173) Was war passiert? Seite 5
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Zwei Bedeutungsdimensionen: (1) enger und (2) weiter Normalitätsbegriff Verlust an traditionellen Sicherheiten mit Blick auf Handlungsweisen, Glauben und leitende Normen (Entzauberungsdimension der Individualisierung (Beck 1986) ①Notwendigkeit der Standardisierung und Aufkommen der Idee von „Normung“ und „Normierung“ (z. B. Militär und Schulwesen: Normalschulen, école normale) ②Normal/Normalität als das Selbstverständliche, das Erwartbare, das Gewohnte Seite 6
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit „Normalitätskrise“? (Heiner Keupp mit Bezug auf Ulrich Beck und Anthony Giddens) Seite 7
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Normalitätsdilemma in einer individualisierten Gesellschaft Normal anormal Normal sein ist unnormal? Alles ist normal? Wer will schon normal sein? Niemand ist normal? Wir wollen alle normal sein? Seite 8
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Die Verwirrung meiner Normstudent. In bleibt „ „normal? “ “ Seite 9
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit „Was also ist normal? “ • Empirische Frage – Sie sind nicht wie die Mehrheit! – Sie weichen vom Standard/Durchschnitt ab! • Normative Frage (Normativität) Lingenauber, Sabine (Hrsg. ): Handlexikon der Integrationspädagogik, Band 1, Kindertageseinrichtungen, Bochum/Freiburg 2008, S. 160 -168. – Sie sind nicht akzeptabel! – Sie müssen sich ändern – Sie gehören nicht dazu! Seite 10
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft und Praxis ist immer normativ und muss deshalb auf die ein oder andere Weise die Frage beantworten: Was ist normal? „Vor diesem Hintergrund ist Soziale Arbeit notwendigerweise von dem Problem der Normativität betroffen (vgl. Oelkers et al. , 2008; Otto/Seelmeyer, 2004): Sie ist auf gesellschaftspolitische Festlegungen und auf Resultate lebenspraktischer Entscheidungen bezogen, in die (explizite oder implizite) Annahmen über Anstrebenswertes und zu Vermeidendes, Achtenswertes und Verachtenswertes, Zulässiges und Unzulässiges, Zumutbares und Unzumutbares eingegangen sind. Sie kann also nicht darauf verzichten, zu lebenspraktischen Fragen wertend Stellung zu beziehen. So etwa zu den Fragen, was das Kindeswohl gefährdet oder welche Formen selbst- und fremdschädigenden Verhaltens hinzunehmen sind und welche Interventionen erforderlich werden lassen. “ (Otto/Scherr/Ziegler 2010: S. 142) Seite 11
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Soziale Arbeit ist „Normalisierungsarbeit“ Normalisierungsarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass „einerseits die Besonderheit, Individualität Kontingenz, Variabilität (der Lagen und Bedürfnisse von Kunden, Schüler (sic), Patienten. . . ) gewahrt, respektiert und bestätigt werden muß (sic), während andererseits doch im Ergebnis ein Zustand herbeizuführen ist, der bestimmten allgemeinen Regeln und Kriterien, Ordnungs- und Wertvorstellungen entspricht“ (Offe 1987: S. 175 Herv. i. O. , zitiert nach Seelmeyer 2008: S. 163). Seite 12
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Vier Normalisierungsstrategien Ø Änderung von Personen durch Erziehung, Beratung, Therapie Ø Kontrolle, Zwang und Sanktionen Ø Bereitstellung „sozialstaatliche Normalität“ (Böhnisch 1996: S. 414) Ø Zurückweisen und Verändern von Normalitätsstandards (Sozialarbeitspolitik) Seite 13
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit „normal? “ „. . . und bin so klug als wie zuvor? “ „ “ Seite 14
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Ausweg (enger Normalitätsbegriff): Normierung bzw. Standardisierung • Orientierung an Diagnoseinstrumenten (Diagnosebögen, Klassifikationen, Check. Listen, Inventare, Manuale usw. ) – – – Körperliche, geistige und seelische Einschränkungen Entwicklungsverzögerungen Verhaltensdefizite Abweichungen, Grenzwerte, Wertdefizite Mindeststandards Ressourcenmangel Seite 15
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Problematiken • Defizitorientierung • Sensibilisierung und Expansion • Entmündigung und Expertenherrschaft (vgl. Ivan Illich 1979) • Verkennung/Verschleierung/Nicht. Problematisierung impliziter Normalitätsvorstellungen (der „flexible Mensch“ Richard Sennett 2000) Seite 16
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Neue Normalisierungsarbeit (Karin Böllert 1995) – Supernorm „selbstbestimmte Lebenspraxis“ • „Selbstbestimmte Lebenspraxis“ und die von den Klient. Innen Sozialer Arbeit erfahrenen „Beschädigungen und Begrenzungen“ (ebd. S. 103) • „Normalisierung durch soziale Arbeit (soll) als Ermöglichung von Autonomie begriffen werden“ (ebd. S. 66) • Menschliche Würde und selbstbestimmte Lebensführung (zitiert nach Seelmeyer 2008: S. 169) Seite 17
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Problematiken: schon wieder! • Was bedeutet Selbstbestimmung? – zwischen Menschenwürde und Individualisierungszwang, zwischen Freiheit und Abhängigkeit • Welche Voraussetzungen hat Selbstbestimmung? • Ist Selbstbestimmung nicht das trojanische Pferd neoliberaler Privatisierungsstrategien? • usw. . . . Seite 18
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Selber denken! ① Welche bewussten oder unbewussten Normalitätsvorstellungen leiten unser Handeln? ② Welche Normalitätsvorstellungen prägen unsere politischen und organisationalen Handlungsbedingungen? ③ Welche Normalitätsvorstellungen haben unsere Klient. Innen – woher und warum? Seite 19
29. 10. 2020 „Normalisierung“ in der Sozialen Arbeit Zum weiterlesen • Kessl, F. /Pößler, M. (Hrsg. ) 2009: Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen, VS Verlag, Wiesbaden. • Otto, H. -U. /Scherr, A. /Ziegler, H. 2010: Wieviel und welche Normativität benötigt die Soziale Arbeit, Neue Praxis (np), H. 2, S. 137 -163. • Seelmeyer, U. 2008: Das Ende der Normalisierung? Soziale Arbeit zwischen Normativität und Normalität, Juventa, Weinheim, München. • Seelmeyer, U. /Kutscher, N. 52015: Normalität und Normalisierung, in: Otto, H. -U. /Thiersch, H. (Hrsg. ): Handbuch Soziale Arbeit, Ernst Reinhardt Verlag, München. Seite 20
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