Mathematik verstehen behalten und anwenden Konsequenzen fr Lerninhalte
Mathematik verstehen, behalten und anwenden – Konsequenzen für Lerninhalte und Lernmethoden Prof. Dr. Regina Bruder TU Darmstadt MNU Frankfurt 16. 4. 2003 Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Aktuelle Diskussion Was soll im Mathematikunterricht wie gelernt werden? Und: Warum? Orientierung an - Entwicklungen in der Mathematik und ihren Anwendungen - soziologischen Einsichten Folgerungen zu Lernzielen für Mathematik (H. Winter u. a. ) - Ergebnissen der Lehr- und Lernforschung (Weinert u. a. ) - Erfahrungswissen Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Aktuelle Diskussion - verschiedene Perspektiven Was sich Lernende wünschen und vorstellen: • vorurteilsfreie Lehrer/innen, die gut erklären können • ernst genommen werden und etwas „Sinnvolles“ lernen (müssen) • Lernchancen erhalten – toleranter Umgang mit Fehlern und klare Orientierungen • ein harmonisches Lernumfeld und gerechte Beurteilungen Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Gliederung Was ist das Wesentliche, das im MU verstanden, behalten und angewendet werden sollte? Themenfelder für vernetztes Lernen Wie kann man Mathematik so lernen, dass die Inhalte verstanden, behalten und angewendet werden können? Handlungskompetenzen spezifizieren Moderne Methoden basierend auf erprobten Lehr- und Lernkonzepten Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – drei Grunderfahrungen bzgl. Mathematik Was soll durch Mathematikunterricht von der Mathematik verstanden, Mathematische Gegenstände. . . als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art. . . begreifen. behalten und Problemlösefähigkeiten (heuristische Fähigkeiten, die über die Mathematik hinausgehen) angewendet werden können? Erscheinungen der Welt um uns. . . in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen. Vgl. die drei Grunderfahrungen bzgl. Mathematik nach H. Winter 1995 Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel Verstehen, Behalten und Anwenden können – aber was? Einstieg: Gedankenexperiment: Wer ist schneller? Ein Ruderboot auf einem See rudert eine bestimmte Strecke gleichmäßig hin und wieder zurück. Zur gleichen Zeit startet ein gleich starkes Ruderboot auf einem Fluss und fährt die gleiche Streckenlänge genauso wie das andere – jedoch einmal flussaufwärts und einmal flussabwärts. Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel 1. Für einen 800 m-Lauf wird eine bestimmte Zeit anvisiert. Daraus wird die durchschnittliche Rundenzeit t ermittelt. Um sich vom Feld abzusetzen, soll die erste Runde jedoch 10 sec schneller sein als bei gleichmäßigem Tempo notwendig wäre. Wie viel Zeit steht dann für die 2. Runde zur Verfügung? 800 m-Zeit insgesamt: 2 t 1. Runde: t – 10 sec 2. Runde: t + 10 sec Mathematische Beschreibung: Arithmetisches Mittel Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel 2. Ein Geldverleiher möchte einen durchschnittlichen Zinssatz von 8% pro Jahr erreichen. Er bietet einem Kunden an, im ersten Jahr nur 2% Zinsen zu zahlen, dafür im 2. Jahr dann 14%. Die Zinsen sollen zusammen mit der Rückzahlung des Kapitals am Ende des 2. Jahres fällig werden. Problem: Mathematische Beschreibung: Geometrisches Mittel Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel Beobachtung: Das arithmetische Mittel ist etwas größer als das geometrische Mittel. Fragen: Ist das immer so? Warum denn? Beschreibungsebene der Mathematik: Vermutung: > a, b pos. reell Begründung durch eine geometrische Interpretation: a Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003 b
Lernziele – ein Beispiel a Erweiterung: b Gibt es einen algebraischen Zusammenhang zwischen arithmetischem und geometrischem Mittel ? Der Kathetensatz ermöglicht eine Verknüpfung zwischen arithmetischem und geometrischem Mittel Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003 • X = ( ( )²
Lernziele – ein Beispiel Arithmetisches Mittel Geometrisches Mittel 3. Für einen Besuch bei Freunden wurde für die Autofahrt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 km/h eingeplant. Leider gab es einen Stau, so dass die erste Hälfte der Strecke nur mit einem „Schnitt“ von 50 km/h absolviert wurde. Wie schnell hätte auf der zweiten Hälfte gefahren werden müssen, um trotzdem wie vorgesehen am Ziel einzutreffen? Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel Für die Zeit gilt bei konstanter Geschwindigkeit : Fahrzeit 1. Hälfte + Fahrzeit 2. Hälfte = Gesamtzeit Interpretation: Die für den Gesamtweg geplante Zeit ist bereits nach der 1. Weghälfte abgelaufen! Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – ein Beispiel Was ist das für ein „Mittelwert“? Für die Geschwindigkeit gilt: Dann gilt für die Durchschnittsgeschwindigkeit über die beiden Weghälften: Und mit Vereinfacht ergibt sich: Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003 Harmonisches Mittel
Lernziele – ein Beispiel: Mittelwerte im Mathematikunterricht Fragen: Wo liegt das harmonische Mittel im Vergleich zu den beiden anderen Mittelwerten? Beschreibungsebene der Mathematik: Termumformung von a b Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003 zu
- Mittelwerte im Mathematikunterricht Weitere Mittelwerte: Quadratisches Mittel und Kubisches Mittel mit Anwendungen: - Standardabweichung - Wann ist ein Weinbecher halb voll? *Weiterung: Konstruierbarkeit der Winkeldreiteilung Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – Folgerungen für den Lehrplan? Was soll durch Mathematikunterricht von der Mathematik verstanden, Funktion von Mathematik zur Aufklärung struktureller Unterschiede in realitätsbezogenen Situationen erkennen behalten und Der Begriff Mittelwert besitzt verschiedene Ausprägungen Beispielkontexte und Visualisierungen als Merkhilfen angewendet werden können? Mittelwerte als mathematische Modelle begreifen und in verschiedenen Kontexten wiedererkennen und nutzen Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – Folgerungen? Folgerungen für Lehrplan, Standards und Schulcurriculum? Einige Defizite von Stoffplänen können überwunden werden durch schulspezifische Akzentuierungen, insbesondere: - Ausweisen von Themenfeldern mit einem Realitätsbezug, um Vernetzungen zu ermöglichen, Strategien zur Wissensentwicklung kennen zu lernen und die Kraft von Mathematisierungen zu erfahren Beispiele: Mittelwerte, Fibonaccizahlen - Fünfeck, Kryptographie, Verpackungsoptimierung, Bezierkurven. . . Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lehrpläne – verschiedene Perspektiven Vorwürfe an Mathematiklehrpläne von KÜHNEL: „ 1. Sie sind in ihrer Stoffülle undurchführbar, oder sie verführen. . . zu oberflächlicher Behandlung und veranlassen damit auch die Schüler zu Oberflächlichkeit. 2. Sie befördern die Methode des Stopfens, sie machen den Schüler satt und verleiden ihm Lernen und Schule. 3. Sie können viel zu wenig Rücksicht nehmen auf das jugendliche Verständnis und die jugendliche Entwicklung. . . 4. Sie bringen eine durch nichts zu rechtfertigende, aber in den meisten Fällen recht schädliche Verfrühung mit sich. 5. Ihr Durcharbeiten gibt in keiner Weise die Gewähr dafür, daß der betreffende Schüler nachher wirklich etwas leisten wird. “ Kühnel, J. : Neubau des Rechenunterrichts. Leipzig 1916 Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Gliederung Was ist das Wesentliche, das im MU verstanden, behalten und angewendet werden sollte? Themenfelder für vernetztes Lernen Wie kann man Mathematik so lernen, dass die Inhalte verstanden, behalten und angewendet werden können? Handlungskompetenzen spezifizieren Moderne Methoden basierend auf erprobten Lehr- und Lernkonzepten Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Methodische Umsetzung – am Beispiel Problemlösen Lernziel und Lernchance im MU: Problemlösefähigkeiten (heuristische Fähigkeiten, die über die Mathematik hinausgehen) Weg zur Umsetzung: 1. Zielkonkretisierung über Teilhandlungen des Problemlösens 2. Theoretisches Konzept zum Problemlösenlernen entwickeln und erproben (DFG-Projekt) 3. Unterrichtskonzept zum Problemlösenlernen in die Aus- und Fortbildung und in Lernmedien integrieren: 4. Begründeter Methodeneinsatz Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Teilhandlungen des Problemlösens Die Lernenden - erkennen mathematische Fragestellungen auch in Alltagssituationen und können solche Fragestellungen formulieren • Stadtrundgang mit der Mathematikbrille. . . • Kreation einer neuen Leckerei, eines Zeltes. . . - wo wird dabei Mathematik benötigt? • Wo und wie benötigt man im Alltag Strukturieren, Kombinieren, Optimieren, Entscheidungen begründen, Verallgemeinern, Interpretieren. . . Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Teilhandlungen des Problemlösens Die Lernenden - können mathematische Fragen finden und formulieren - kennen mathematische Modelle bzw. geeignete Vorgehensweisen zur (kreativen) Bearbeitung mathematischer Fragestellungen und können diese situationsgerecht anwenden Funktionen, Gleichungen, Visualisierungen ( geometrische Figuren und Beziehungen ), zentrale mathematische Ideen (Approximieren- Optimieren, Algorithmieren. . . ) und heuristische Strategien. . . Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Teilhandlungen des Problemlösens Die Lernenden - können mathematische Fragen finden und formulieren - kennen mathematische Modelle und können Vorgehensweisen anwenden - entwickeln Anstrengungsbereitschaft und Reflexionsfähigkeit für ihr eigenes Handeln - Strategien für selbstreguliertes Lernen (insbesondere Willensstrategien) vermitteln - Erfolgserlebnisse ermöglichen - Binnendifferenzierung - Anlässe für eigenverantwortliches Lernen Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziel Problemlösen Probleme leistungsstarker Schüler/innen im MU – Probleme von Begabtenerkennung und -förderung • besondere Leistungen in Mathematik finden weniger Anerkennung als in anderen Bereichen, begünstigen u. U. eine Außenseiterrolle • geringe Akzeptanz alternativer Lösungsideen im MU führt zur Resignation – Talente können verkümmern, Verhaltensauffälligkeiten sind eine mögliche Folge • Unterforderung im Mathematikunterricht hemmt die Leistungsbereitschaft Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziel Problemlösen – Lehr- und Lernkonzepte Mathematik verstehen, behalten und anwenden lernen – aber wie? Wesentliche Bedingungen für das Entstehen von Lernhandlungen: • Lernaufgaben Handlungsaufforderungen: WAS? WARUM das? • Orientierungsgrundlagen für die erforderlichen Handlungen WIE kann ich vorgehen? Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Lernziele – Lernaufgaben Verstehen – behalten – anwenden können erfordert: Zielklarheit: Ausgangsniveau: Vergewissern, ob die „gestellten“ Lernziele mit den individuellen Lernaufgaben übereinstimmen Vergewissern, ob die Lernenden eine realistische Chance haben, die Lernaufgabe zu bewältigen Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Unterrichtsrealität TIMSS-Videostudie - Muster des deutschen MU 1. Einführung: Besprechung der Hausaufgabe. 2. Wiederholung: kurze Wiederholungsphase bei zügigem Interaktionstempo 3. Erarbeitung: neuer mathematischer Stoff wird im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch auf eine einzige Lösung hin relativ kurzschrittig erarbeitet 4. Übung in Stillarbeit ähnliche Aufgaben zur Einübung des Verfahrens 5. Hausaufgaben Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Unterrichtsrealität und Folgerungen: • Zu wenig kreativitätsfördernde Anforderungen Flexibles Arbeiten mit Aufgaben: Aufgaben abwandeln, erweitern, auswählen, finden, gruppieren, vergleichen, werten. . . • Es genügt nicht, die Lernenden mit geeigneten Aufgaben nur zu konfrontieren und darauf zu hoffen, dass diese dann auch gelöst werden (können)! Heuristische Bildung und Selbstregulation • Kurzschrittig geführtes unreflektiertes Lernen behindert die Anwendungsfähigkeit und Verfügbarkeit des Wissens Lernumgebungen für nachhaltiges Lernen: Themenfelder Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Verschiedene Lernziele – verschiedene Lehr-Lernmethoden Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Handlungsorientierungen – aber wie? Verstehen, Behalten und Anwenden können – moderne und altbekannte Unterrichtsmethoden lmodulare Arbeitsplanung – semantische Netze l. Aufgabenkonzept für eine Unterrichtseinheit lpermanente Wiederholung (Kopfübung, Mathematikführerschein, Wissensspeicher anlegen) l. Methodentraining (Heuristik) und Methodenreflexion (Lernprotokolle) l. Teilhandlungen ausbilden Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Unterrichtsrealität und Vergleichsstudien Was unterscheidet den MU in testerfolgreichen, kulturell vergleichbaren Ländern von weniger erfolgreichen? • tiefgreifende Veränderungen in der Unterrichtskultur in den letzten Jahrzehnten (selbst. Lernen, Realitätsnähe) • gut funktionierende Unterstützung für die Schulpraxis • Autonomie, Verantwortung und Ansehen der Lehrkräfte auf relativ hohem Niveau gehalten • enge Zusammenarbeit zwischen universitären Institutionen und Schulpraxis • Initiativen in der Lehreraus- und Fortbildung • staatliche Investitionen in fachdidaktische Forschung und Entwicklung IMST-Studie, Klagenfurt 1999 Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! www. math-learning. com Regina Bruder TUD MNU 16. 4. 2003
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