Lass uns drber redenoder lieber doch nicht Nebenwirkungen
Lass uns drüber reden…oder lieber doch nicht? Nebenwirkungen in der Psychotherapie Dipl. -Psych. Antje Wietzke/ Dipl. -Psych. Jana Fiebig Charité - Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie 19. DGBS Jahrestagung Frankfurt am Main 2019 Symposium SP V 1
Aktueller Stand Forschung hat vielfach belegt, dass Psychotherapie wirksam ist (z. B. Lambert, 2013) Ausschnitt aus der aktuellen S 3 -Leitlinie (November 2018): „Psychotherapie bei Bipolaren Störungen wird im Rahmen der Akutbehandlung, zur Erhaltung und Stabilisierung und vor allem zur Verhinderung neuer Krankheitsepisoden eingesetzt. “ Unter Punkt 5 „Therapie“ der S 3 -Leitlinie nimmt die Beschreibung der psychotherapeutischen 7 Seiten in Anspruch. Keine Erwähnung von Nebenwirkungen von Psychotherapie
Aktueller Stand Mögliche Nebenwirkungen von Psychotherapie fanden in den vergangenen Jahrzehnten in der Forschung kaum Beachtung. Es gibt nach wie vor keine einheitliche Definition von Nebenwirkung. Seit 2013 besteht eine gesetzlich verankerte Aufklärungspflicht über NW von Psychotherapie (§ 630 e BGB) Vorschlag einer Definition nach Linden, M (2018): „Nebenwirkungen von Psychotherapie sind unerwünschte Ereignisse bezüglich der unmittelbaren Krankheitssymptomatik, des Therapieprozesses, des weiteren Lebensumfelds sowie der Krankheitsverarbeitung des Patienten, die durch eine korrekt durchgeführte Behandlung verursacht wurden. “
Ursachen von Nebenwirkungen in der PT Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen. einfache kausale Zuschreibungen auf entweder die/ den Therapeut*in oder die/ den Patient*in ist durch die Vielschichtigkeit der Dynamik häufig unzutreffend. Unterscheiden lassen sich: Ø Patient*innenvariablen (Art und Schweregrad der Erkrankung, Persönlichkeit etc. ) Ø Passungs- bzw. Beziehungsvariablen Ø Methodenvariablen (Indikationen für bestimmte Methoden, Techniken oder Settings) Ø Therapeut*innenvariablen („blinde Flecken“, Persönlichkeit).
Therapeut*innen sind Prozessverantwortliche
Systematik therapeutischer Fehler Alltagsfehler: „Elemente der therapeutischen Arbeit, die in der ersten Reaktion des Therapeuten von diesem als unerwünscht wahrgenommen werden“ (Bienenstein und Rother, 2009) Ø spontane, einmalige, nicht geplante Handlungen, die dem Therapeuten als unangemessen erscheinen z. B. Vergessen von Sitzungen, unpassendes Lachen, falsche Wortwahl, zu starke Selbstoffenbarung Chancen, diese Fehler zu bearbeiten sind gut, da sie dem Therapeuten bewusst sind dem Pat. kommuniziert werden können und mit
Systematik therapeutischer Fehler in schwierigen Situationen (Fehler durch Überraschung/ aktueller Überforderung): Fehlhandlungen, die unter besonders herausfordernden Bedingungen entstehen, schwierige Interaktionssituationen z. B. starke Kritik am Verhalten des Therapeuten, starke Zuneigung/ Verliebtheit, mangelnde Motivation, Schweigen therapeutischer Rahmen wird infrage gestellt oder verlassen, Therapeut wird als Person angesprochen, unmittelbare Reaktion ist notwendig mögliche Fehler: Ignorieren der Brisanz der Situation, Verstricken in Kämpfe, wollen Überzeugen
Systematik therapeutischer Fehler Kunstfehler bzw. „technische Fehler“: Fehlerarten, die sich aus der unzureichenden Kompetenz des Therapeuten bzw. aus einer inkorrekt durchgeführten Psychotherapie ergeben methodenspezifisch: eine Technik wird falsch angewandt (z. B. zu schnelle Diagnose und Behandlungsplanung, starke Gefühle evozierende, „tiefe“ Techniken an unpassender Stelle, übermäßige Anwendung einzelner Techniken) Kunstfehler, die mit der Persönlichkeit des Therapeuten assoziiert sind: überstarke Aktivierung persönlicher Anteile des Therapeuten (Caspar und Kächele, 2008), z. B. „Sichübermäßig. Anstrengen“, Pat. geheim abwerten, schnell zynisch sein, sich selbst zu sehr in den Mittelpunkt stellen
Systematik therapeutischer Fehler Ethische Generalfehler: Handeln entspricht nicht den vorgegeben, verbindlichen ethischen Richtlinien Therapeut nutzt spezielle Abhängigkeitssituation zu einer Grenzüberschreitung aus Missbrauch auf verschiedenen Ebenen: narzisstischer, finanzieller, ideologische, sexuelle Ausbeutung Verletzung der Schweigepflicht, respektloser Umgang (Beschimpfen, Belästigen)
Abb 1. : Brakemeier EL, Nestoriuc N, Jacobi F. Nebenwirkungen von Psychotherapie. In Brakemeier EL, Jacobi F, eds. Verhaltenstherapie in der Praxis. Weinheim. Beltz; 2017: 921 -929
Beispiel aus der Praxis „Nach ca. fünf Jahren Therapie meinte die Therapeutin, die Abstinenzregel gelte nur für schlechte Therapeuten; sie jedoch sei gut genug, sich darüber hinwegzusetzen. Sie […] begann parallel zur ›Therapie‹ eine ›Freundschaft‹ mit mir, was mir anfangs natürlich sehr geschmeichelt hat. Da sie körperlich starke Beschwerden hatte, erledigte ich alle Einkäufe für sie, machte ihre Buchhaltung, putzte ihre Wohnung, erledigte ihre umfangreiche Korrespondenz, begleitete sie zu Ärzten und Behörden – schließlich arbeitete ich jede Woche unentgeltlich 35 -40 Stunden für sie (als Ausgleich dafür, dass ich eine von drei wöchentlichen Therapiestunden nicht bezahlen musste). Da ihrer Ansicht nach alle meine anderen Beziehungen, einschließlich meiner Partnerschaft, regressiven Mustern folgten, habe ich im Lauf der Zeit alle Freundschaften und auch den Kontakt zu meiner Familie eingestellt und meinen Partner verloren, der gleichzeitig mit mir in Einzeltherapie bei derselben Therapeutin war. […] Sie hat mich mehrfach geohrfeigt und einmal während einer Sitzung gewürgt. Ich habe mehrmals versucht auszusteigen, aber sie hat mich jedes Mal überzeugt, dass das nur Fluchtversuche wären, dass ich meinen destruktiven Anteilen folgen würde und dass ich ein liebloser, schlechter Mensch wäre, wenn ich sie im Stich ließe. “ (9)
Beispiele aus der eigenen Praxis Im Rahmen der Erarbeitung von Achtsamkeit ggü. Frühwarnzeichen kommt es zu Überfokussierung auf innere Vorgänge/ Stimmungen – Leidensdruck durch ständiges Sichbeobachten Oder: Einschätzung der Stimmung wird an mich delegiert – Rückversicherungstendenz – Risiko der Abhängigkeit Erarbeitung von Krankheitseinsicht/ -akzeptanz führt zu „Entschuldigung“ von gereiztem, aggressiven, teilnahmslosen Verhalten ggü. nahen Bezugspersonen mit der Diagnose oder umgekehrt nahe Bezugspersonen überinterpretieren „normale“ Stimmungsschwankungen („Du bist doch wieder manisch. “) Weinen (? )
Umgang mit therapeutischen Fehlern Proaktiver Umgang: aktive Auseinandersetzung mit dem Fehler und den sich daraus ergebenden Konsequenzen (Selbstreflexion, Intervision, Supervision, Rückmeldung an Pat. ) Grundsätzliche Bereitschaft, sich und das eigene Tun in Frage zu stellen bzw. in Frage stellen zu lassen Toleranz für eigene Unvollkommenheit Transparenz und Partizipation Auch eingehen auf unterschiedliche Sichtweise von Patient*in und Therapeut*in (was Therapeut*innen als Wirkung empfinden, kann von Patient*innen als Nebenwirkung empfunden werden) Besprechen mit dem Pat. , einen neuen Kurs einzuschlagen Fehler als Input sehen, an dem wir wachsen können
Beipackzettel der Donau-Universität Krems im Rahmen der RISK Studie (10)
Fazit Mehr Studien zu diesem Thema, um validere Daten zu erhalten Zwischen den Therapieverfahren vergleichende Studien Größerer Fokus bereits in Studium und Ausbildung Sensibilisierung von Betroffenen, Angehörigen und praktizierenden Therapeuten Ausbau von Feedbackschleifen in der psychotherapeutischen Praxis, Formulierung und Evaluation von Zwischenzielen, Symptom-Checklisten, prozessuale Diagnostik, … (6) Fehlerfreundliche Haltung von allen Seiten „Psychotherapie ist wie jedes menschliche Tun nie beliebig wiederholbar perfekt. “ (6)
Quellen und Literatur 1 Jaspers K. Wesen und Kritik der Psychotherapie. Stuttgart: Piper; 1955 2 Foulkes P. The therapist as a vital factor in side-effects of psychotherapy. Austral New Zeal J Psychiat 2010; 44: 189 -189 3 Binder JL, Strupp HH. Negative process: A recurrently discovered and underestimated facet of therapeutic process and outcome in the individual psychotherapy of adults. Clin Psych: Sci Pract 1997; 4: 121 -139 4 Märtens M, Petzold H. Therapieschäden. Mainz: Grünewald; 2002 5 Linden M, Strauß B. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. 2. Auflage Berlin: Wissenschaftlich Medizinischer Verlag; 2018 6 Linden M, Strauß B. Die Erfassung von Risiken und Nebenwirkungen in der Psychotherapie. Berlin: Wissenschaftlich Medizinischer Verlag; 2019 7 Klatte R, Strauß B, Flückiger Ch et al. Adverse Effects of Psychotherapy: Protocol for a Systematic Review and Meta-Analysis. BMC Systematic Reviews submitted 8 Schigl B. , Gahleitner SB. , Fehler machen - aus Fehlernen? - Perspektiven zur Klassifizierung von psychotherapeutischen Fehlern und dem Umgang damit. Psychotherapie-Wissenschaft; 2013; 1: 23 -33 9 Gahleitner, S. B. , Schigl, B. , Gerlich, K. , & Hinterwallner, H. (2014). Risiken und Nebenwirkungen in der Psychotherapie vermeiden: Was Therapeut. Innen von Patient. Innen lernen können. Psychologie und Gesellschaftskritik, 38(1), 7 -29 10 Leitner, AM et al. (2012). Psychotherapie: Risiken, Nebenwirkungen und Schäden. Zur Förderung der Unbedenklichkeit von Psychotherapie. Endbericht. Krems, Österreich: Donau-Universität Krems.
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