JOHANN JOACHIM WINCKELMANN Beschreibung des Torso im Belvedere
JOHANN JOACHIM WINCKELMANN Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom (1759) Geschichte der Kunst des Altertums (1764)
*9. Dezember 1717 in Stendal ■ Einzelkind, das in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, besucht dennoch die Lateinschule und arbeitet nebenbei als Nachhilfelehrer 1738 beginnt sein Studium der Theologie an der Universität in Halle ■ W. besucht in Halle Vorlesungen von Alexander Gottlieb Baumgarten in Ästhetik und Logik. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitet er zeitweise als Privatlehrer 1741 Beginn des Medizinstudiums in Jena 1752 verfasst erste Kunstbeschreibungen über Gemälde der Dresdner Galerie 1755 W. lässt sich nach seiner Italienreise in Rom nieder 1756 W. beginnt die Geschichte der Kunst des Altertums zu schreiben 1764 Veröffentlichung der Geschichte der Kunst des Altertums in zwei Bänden † 8. Juni 1768 W. wird in Triest ermordet und dort beerdigt Kurzbiographie J. J. Winckelmann
Winckelmanns Vorrede der „Geschichte der Kunst des Altertums“ „Die Geschichte der Kunst soll den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall derselben, nebst dem verschiedenen Stile der Völker, Zeiten und Künstler lehren, und dieses aus den übriggebliebenen Werken des Altertums, so viel möglich ist, beweisen. “ (Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums (im Folgenden GK), S. 9) ■ Erläuterung der Absicht und Notwendigkeit des Werks ■ Thematisierung und Darlegung der bestehenden Werke zur Geschichte der Kunst --> unzulänglich ■ Darstellung der Methode zur Untersuchung von Kunstgegenständen ■ Selbstinszenierung und Hinweise Hintergrund (Winckelmann: GK, S. 16) ■ Kunst als Ausdruck der Geschichte eines Volkes auf sozialen Die Geschichte der Kunst des Altertums besteht aus zwei Teilen: ■ Erster Teil (a-historisch): analysiert das Wesen und Regeln der (insbesondere der griechischen) Kunst „[…] meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern […] in der Abhandlung der Kunst von der Kunst der alten Völker […] in Absicht der griechischen Kunst […]“ (Winckelmann: GK, S. 9) ■ Zweiter Teil (historisch): beschreibt die historischen Begebenheiten der Entstehung von Kunst; bezieht auch das Wesen der Kunst ein „Der zweite Teil enthält die Geschichte der Kunst im engeren Verstande, das ist, in Absicht der äußeren Umstände, und zwar allein unter den Griechen und Römern. “ (Winckelmann: GK, S. 9)
„Ich habe alles, was ich zum Beweis angeführt habe, selbst und vielmal gesehen und betrachten können, sowohl Gemälde und Statuen als geschnittene Steine und Münzen; um aber der Vorstellung des Lesers zur Hilfe zu kommen, habe ich sowohl Steine als Münzen, welche erträglich im Kupfer gestochen sind, aus Büchern zugleich mit angeführt. “ Methode: SEHEN – die visuelle Wahrnehmung „Noch viel schwerer aber ist die Kenntnis der Kunst in den Werken der Alten, in welchen man nach hundertmal Wiedersehen noch Entdeckungen macht. “ (Winckelmann: GK, S. 16) ■ Empirische Vorgehensweise (Erfahrungswissenschaft): Quelle richtiger Kunstkenntnis (bzw. der wahren Erkenntnis über Kunstdinge) besteht für W. in ihrer sinnlichen Wahrnehmung ■ Genauigkeit durch detaillierte, ruhige, direkte, wiederholte Anschauung der Kunstwerke ■ „Mutmaßungen“ bzw. Interpretationen sieht W. als Teil seiner Beweisfindungen, diese müssen belegt werden – viele Wahrscheinlichkeiten bilden Beweis (Winckelmann: GK, S. 18)
Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom ■ Ideal der vergangenen Schönheit und der Vollkommenheit: „Diese Beschreibung geht nur auf das Ideal der Statue, sonderlich da sie idealisch ist, und ist ein Stück von einer ähnlichen Abbildung mehrerer Statuen. “ (Winckelmann: TB, S. 174) ■ Darstellung des Helden Hercules als gottgleich: ohne Ausdruck von Kraftanstrengungen – Seine Muskeln sind nicht angespannt, „[e]s sind keine Adern sichtbar […]“ und er scheint „[…] ohne Bedürfnis nach Nahrung […]“ zu sein (Winckelmann: GK, S. 346) ■ Der im Sitzen gekrümmte Oberkörper (geneigter Nacken) deutet auf eine nachdenkliche Pose des Hercules „Man sehe [die gegenwärtige Beschreibung] an, als eine Probe von dem; was über ein so vollkommenes Werk der Kunst zu denken und zu sagen wäre, und als eine Anzeige von Untersuchung in der Kunst. Denn es ist nicht genug zu sagen, daß etwas schön ist: man soll auch wissen, in welchem Grade, und warum es schön sey. “ (Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom S. 174)
Abbildung: Torso im Belvedere zu Rom „Hier möchte ich stille stehen, um unsern Betrachtungen Raum zu geben, der Vorstellung ein immerwährendes Bild von dieser Seite einzudrücken; allein die hohen Schönheiten sind hier ohne Grenzen, und in einer unzertrennlichen Mittheilung. “ (Winckelmann: Beschreibung Torso im Belvedere zu Rom (im Folgenden TB), S. 177) Bildunterschrift: „Abb. 16: Torso vom Belvedere, Marmororiginal von Apollinios, entstanden Mitte des 1. Jhs. v. Chr. (H. 1, 59 m); Musei Vaticani, Atrio del Torso, a) von vorne […]“
„[…] b) von hinten. “
■ Die Beschreibungen von Kunstwerken soll neben der „reinen“ Darstellung zur Anregung der Vorstellungskraft beitragen ■ Bei fragmentarischen Kunstwerken dient die Beschreibung durch die/den Kunsthistoriker_in zudem als (notwendige) Vervollständigung dessen, was nicht mehr sichtbar ist ■ W. beschreibt die fragmentarische Apollo-Statue als: „[…] in die Unsterblichkeit eingehüllet, und die Gestalt [des Torsos] […] wie ein Gefäß derselben; ein höherer Geist scheinet den Raum der sterblichen Theile [der Plastik] eingenommen, und sich an die Stelle derselben ausgebreitet zu haben. “ (Winckelmann: TB, S. 178) ■ Torso nach Winckelmann: real (materiell) existierender Teil, immaterielle Teile aber unsterblich, da transzendental weiter im Geist bestehend Winckelmanns Rezeptionsästhetik Die poetische Ebene der Torso. Beschreibung
■ ■ Die Allegorien in Winckelmanns Torso. Beschreibung W. nutzt die Bildkraft der Allegorie (Metaphern & Gleichnisse) als ein rhetorisches Mittel seiner Beschreibung Fokus liegt auf Darstellung der Muskeln: offenbarender Charakter, Einsicht in „eine denkende Kraft“ der Statue (Vgl. Winckelmann: TB, S. 177 f) ■ Muskeln als wellenähnlich, ineinander überfließend beschrieben (Struktur der Wellen) Textbelege ■ Oberkörpermuskeln (Leib): „So wie einer anhebenden Bewegung des Meeres die zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, wo eine von der anderen verschlungen, und aus derselben wiederum hervorgewälzet wird […]“ ■ Unterleibmuskeln (bzw. der Beinansatz): „[…] wie von der Höhe der Berge entdeckete Landschaft, über welche die Natur mannichfaltigen Reichthum ihrer Schönheit ausgegossen. So wie diese luftigen Höhen sich mit einem sanften Abhang in gesenkte Thäler verlieren, dahier sich schmälern und dort erweitern. “ ■ Rücken: „[…] da ich diesen Körper von hinten ansahe, so wie ein Mensch, welcher nach Bewunderung des prächtigen Portals an einem Tempel auf die Höhe desselben geführet würde, wo ihn das Gewölbe desselben, welches er nicht übersehen kann, von neuem Erstaunen setzet. “ (Winckelmann: TB, S. 176 f. )
Der Kunst-Begriff bei Winckelmann „Eine ‚Geschichte der Kunst‘, das setzt voraus, dass die Kunst in der Einzahl und ohne Genitivattribut existiert […. ] Winkelmann ist einer der Ersten, wenn nicht der Erste, der den Begriff der Kunst erfindet, so wie wir ihn verstehen […] als sinnliches Milieu der Koexistenz ihrer Werke. “ (Racière: Aisthesis, S. 35 f. ) ■ W. nutzt, so Rancière, als einer der ersten den Kunst-Begriff im Singular, wobei er die Spaltung von Künstlerbiographie (-leben) und einer Geschichte über antike Kunstgenstände aufhebt ■ In der GK stellt W. den Zusammenhang zwischen: Produkt des Künstlers sowie Methoden, Umgebung und Lebensbedingungen, die ihn leiteten ■ Verhältnis von Kunst und Kultur (&Politik)
Kunst als gründender Gegenstand einer Wirklichkeit Kunstgeschichte „Die Kunst wird mit dieser Idee der Geschichte als Verhältnis zwischen einem Milieu, einer Form des kollektiven Lebens und der Möglichkeit individuellen Eingreifens zur autonomen Wirklichkeit verbunden. “ „Sie muss also ein zeitliches und kausales Schema implizieren, das die Beschreibung von Werken in einen Prozess des Fortschritts, der Vervollkommnung und des Niedergangs einschreibt. “ (Rancière: Aisthesis, S. 38) ■ Einordnung der Kunst in einen größeren Zusammenhang –„Geschichte als Form der Verständlichkeit des kollektiven Lebens“ und „Kunst als sinnliches Milieu der Werke“ ■ Das Besondere an der GK, so Rancière, liege in dem Vorhaben die Gemeinsamkeiten der Methoden, Verfahren und Bedingungen des Künstlers herauszufinden ■ Im Stilbegriff wird die Relation von "Individualität und Kollektivität“ eingeschlossen: charakteristische Wesenszüge, Ausdrucksform und formale Ausrichtung von Kunstgegenständen ■ Die äußeren Begebenheiten (bzw. Umstände) des gemeinsamen Lebens haben eine unmittelbare und wechselseitige Wirkung auf die Entfaltung der Einzelperson (das Individuum) des Künstlers (Rancière: Aisthesis, S. 38 f. )
Eine politische Rezeption der Geschichte der Kunst des Altertums - Freiheit und Kunstschaffen „Der Torso des Hercules scheint eines der letzten vollkommenen Werke zu sein, welche die Kunst in Griechenland vor dem Verluste der Freiheit hervorgebracht hat. “ (Winckelmann: GK, S. 347) ■ Der Höchststand der Kunst fällt mit der attischen Demokratie (Perikles) in einen Zeitraum (5. Jahrhundert v. Chr. ) ■ W. setzt das Politische und die Kunst ein Verhältnis: Entwicklung der Kunst und politische Umstände der kollektiven Freiheit stehen in einem Zusammenhang ■ Freiheit als Mittel zur Beförderung der Kunstschaffung bzw. Entfaltung der Kunst ■ Das Kunstschöne braucht folglich die Freiheit, so Rancière, und endet mit ihrem Verschwinden, mit den Römern ■ Statue des Hercules scheint kollektive Freiheit zu verkörpern – der stärkste Held beim Nachdenken ■ Hercules, der Held und Gott, „der nichts tut und nichts befiehlt“, sondern denkt und ruht, versinnbildlich das demokratische Griechenland (Vgl. Ranciére: Aisthesis, S. 43)
Das Vollkommene des Unvollkommenen – das Fragment „Der verstümmelte und vollkommene Statue des untätigen Helden erlaubt somit die Komplementarität zweier Figuren. “ (Rancière: Aisthesis, S. 45) ■ W. grenzt sich mit seinem Vollkommenheitsideal – seiner Rezeptionsästhetik des „verstümmelten Torso“ – von den „übertriebenen“ Barocken Statuen ab ■ Bruch mit dem organisch Ganzen: Schönheit nicht nur in Erfüllung von Wissenschaft der Proportion und Ausdruck (Rancière: Aisthesis, S. 27) ■ Für W. wird im paradoxen Zustand der Passivität des „verstümmelten“ Helden Hercules die maximale Schönheit verkörpert –„Summum der Kunst. “ (Ebd. S. 24) ■ Torso: „[…]Brücke, die zwischen zwei heterogenen Logiken geschlagen wird, zwischen der Logik der Begriffe, die Kunst anwendet, und der Logik des Schönen, das ohne Begriff ist. “ (Ebd. S. 35) ■ schließt in ihrer Trägheit bzw. Ausdruckslosigkeit (Unvollständigkeit) das paradoxe beider Logiken ein ■ In einer Abbildung können mehrere Statuen, Körper, Sprachen beinhaltet sein, da unspezifisch (nicht Zeichen einer bestimmten Bedeutung)
Literaturverzeichnis Primärliteratur Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums. In: Bibliothek klassische Texte; Sonderausgabe, unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe: Wien 1934. Darmstadt: 1993, S. 9 -22 + S. 345 -350. Winckelmann, Johann Joachim: Torso-Beschreibungen. Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Bibliothek der Kunstliteratur in vier Bänden; hrsg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer, Norbert Miller. Bd. 2: Frühklassizismus. Frankfurt am Main: 1995, S. 175 -181. Sekundärliteratur Décultot, Élisabeth: Geschichte der Kunst des Alterthums und Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums. In: Martin Disselkamp & Fausto Testa (Hrsg. ). Winckelmann Handbuch: Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: 2017; 224 -241. Rancière, Jaques: Die gespaltene Schönheit. In: Aisthesis. Wien: 2013, S. 23 -46 + 329 -330.
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