Inhaltsbezogene Grammatik Humboldts Sprachphilosophie und ihre Nachfolger Zur
Inhaltsbezogene Grammatik Humboldts Sprachphilosophie und ihre Nachfolger
Zur Person Wilhelm von Humboldts I • * 22. 6. 1767 in Potsdam, † 8. 4. 1835 in Tegel • Staats- und Kulturtheoretiker, Sprach- und Kunstwissenschaftler • entstammt preußischem Beamtenadel • nie öffentliche Schule besucht, sondern von den besten Hauslehrern unterrichtet (z. B. Joachim Heinrich Campe) • H. hatte Verbindungen zu fast allen Intellektuellen, Politikern und Wissenschaftlern seiner Zeit (umfangreiche Briefwechsel) • längere Aufenthalte in Paris (1797 -1801) und Rom (18021808) und Reisen ins Baskenland (1799 und 1801) waren wichtig für Reflexion über Sprache
Zur Person Wilhelm von Humboldts II • Beschäftigung mit über 100 Sprachen; beherrschte selbst über 10 gut • philosophische Entwicklung bestimmt von Kant, aber auch von der Geschichtstheorie Herders und der Auseinandersetzung Schillers und Fichtes mit Kant
Politische und gesellschaftliche Situation Anfang des 19. Jhdt. s • Preußen 1806 am Rande des Ruins; Sieg Napoleons • neues bürgerliches Selbstbewusstsein; Transformierung von der Stände- zur Klassengesellschaft
Wichtige sprachphilosophische Schriften • früheste sprachphilosophische Aufzeichnung “Über Denken und Sprechen” (1795 -97) • Briefwechsel mit Friedrich Schiller • zwei sprachtheoretische Hauptwerke: • 1. “Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts” • 2. Einleitung zu dreibändigem Werk “Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java” (Sprache der Dichter und Priester); posthum 1836 -1839
Verhältnis von Sprache und Denken vor Humboldt I • schon in Antike, mittelalterlichem Universalienstreit und negativer Theologie von Nikolaus von Kues Vorstellung erkennbar, dass sich Sprachformen und Denkformen wechselseitig beeinflussen • Neuzeit: Francis Bacon (1561 -1626) fordert eine grammatica philosophica • Giambattista Vico (1668 -1744): Interesse für Sprache als geschichtliche Größe und geschichtliches Produkt • Aufklärung: Determinationsgedanke beginnt sich zu entfalten, Individualisierungsgedanke noch nicht
Verhältnis von Sprache und Denken vor Humboldt II • Sulzer: geschichtliche Entwicklung von Grammatik; unterscheidet drei Sprachperioden • Johann Gottfried Herder (1744 -1803): Wendung von Kants Vernunft zur Sprache; Erkenntniskritik und Sprachkritik gehören zusammen • Johann Georg Hamann (1730 -1788): Kritik an Vernunftgläubigkeit der Aufklärung; Frage nach dem Einfluss der Sprache auf die Vernunft • Romantik (z. B. Brüder Schlegel): individualisierende Grammatikbetrachtung (Abkehr von universalistischen Grammatikbegriffen)
Das Verhältnis von Sprache und Denken bei Humboldt
Allgemeine Tendenzen • bei Humboldt viele sprachphilosophische Traditionen zusammengelaufen bzw. neu entstanden • Vagheit der Begriffe • Sprache bildet den Mittelpunkt in Humboldts Denken • Verlagerung der Sprache vom Rand in den Mittelpunkt der Philosophie
Das Sprachkonzept Humboldts I • Sprache als „bildendes Organ des Gedanken“ • „(Sprache ist) das Mittel, durch welches der Mensch zugleich selbst und die Welt bildet oder vielmehr seiner dadurch bewusst wird, dass er eine Welt von sich abscheidet” (Brief an Schiller) • analogische Struktur der Sprache • Weltansicht: jeweilige Interpretation der Welt schlägt sich in den einzelnen Sprachen nieder • angeborenes Sprachvermögen des Menschen
Das Sprachkonzept Humboldts II • Sprache nicht Werk (Ergon), sondern Tätigkeit bzw. wirkende Kraft (Energeia) • innere Sprachform = grundlegende formbildende Prinzipien der einzelnen Sprachen
Das Grammatikkonzept Humboldts • grammatische Individualität vs. Universalgrammatik (Polaritätsprinzip in Humboldts Denken) • theoretisch denkbare Universalgrammatik praktisch nicht formulierbar • Unterscheidung von stillschweigenden (z. B. chinesischer Sprachtypus) und ausdrücklichen Grammatiken (z. B. indogermanischer Sprachtypus) nach Grad an Explizitheit
Wirkung und Weiterentwicklung von H. s Sprachphilosophie I • schon bei posthumer Veröffentlichung der Kawi-Einleitung (1836) hat sich Komparativismus durchgesetzt (Bopp, Schlegel, Grimm) • Ausdifferenzierung von Einzelwissenschaften im aufkommenden Positivismus => Idee der Synthese aus philosophischer Reflexion und empirischer Sprachforschung findet keinen Anklang mehr • im 19. Jhdt. bleiben Humboldts Ideen marginale Strömung in der Sprachwissenschaft (Heymann Steinthal) • „Humboldt-Renaissance“ seit Mitte der 1960 er Jahre in Linguistik und Philosophie
Wirkung und Weiterentwicklung von H. s Sprachphilosophie II • drei Theorien, die das Problem der Beeinflussung der Erkenntnis und des Denkens wieder thematisiert haben (relativ unabhängig voneinander): • 1. Weisgerbers inhaltsbezogene Grammatik • 2. Allgemeine Semantik (General Semantics) von Korzybski und • 3. Metalinguistik bzw. das sprachliche Relativitätsprinzip von Whorf
Die inhaltsbezogene Grammatik • von Leo Weisgerber in den 1950 er Jahren in Deutschland auf der Basis von Humboldts Sprachphilosophie entwickelt • geistige Zwischenwelten als Vermittlungsinstanzen zwischen Welt des Seins und Welt des Bewusstseins; wichtigste Instanz die (Mutter-)Sprache • zwei Perspektiven: statischer Ansatz (Sprache als Ergon) und dynamischer Ansatz (Sprache als Energeia)
Kritische Würdigung der Theorie • häufige Kritik: Weisgerbers Überbetonung der aktiven Rolle der Sprache für Erkenntnisprozesse • von materialistischen Denkpositionen als Sprachidealismus abgelehnt • trotz ähnlicher Ansätze in den USA blieb Wirkung auf Deutschland beschränkt • dort in 1950 er und 60 er Jahren großen Einfluss auf Schulund Volksgrammatik (inhaltsbezogene Grundkonzeption der Duden-Grammatik)
Die ‚Allgemeine Semantik‘ • begründet durch den Polen Alfred Korzybski mit “Science and Sanity” (1933); Mathematiker und Ingenieur • große Wirkung in USA bis in die 1960 er Jahre • Ziel: sprachbedingte Ursachen für menschliches Fehlverhalten ermitteln und abstellen • inadäquater Sprachgebrauch verzerrt Realität • medialen Charakter der Sprache aufzeigen • physiologischer Ansatz: Reaktionen des menschlichen Nervensystems auf sprachliche Zeichen • positivistische Einstellung => moderne Naturwissenschaft ermöglicht objektive Erfassung der Welt
Das sprachliche Relativitätsprinzip • Whorf auf eingängige Weise auf erkenntnisdeterminierende Funktion sprachlicher Muster aufmerksam gemacht • über seine Lehrer Boas und Sapir wahrscheinlich Kontakt mit Humboldts Denkansätzen • knüpft an allgemeine Sprachkritik an, aber auch Analogien zu Einsteins Relativitätstheorie • kritisiert inadäquate semantische Reaktionen auf sprachliche Muster • Sprache formenden Einfluss auf Bildung von Gedanken • Streitpunkt: ‚starke‘ oder ‚schwache‘ Interpretation der Theorie
- Slides: 18