Forum 6 Virtuelle Identitten Die Rolle virtueller Lebenswelten
Forum 6: Virtuelle Identitäten Die Rolle virtueller Lebenswelten in der Identitätsentwicklung junger Menschen. © Heinz Thiery 2017
Annäherung 1: Identität ist eine uns vertraute (Selbst-)Verfassung, die uns bei uns „zuhause“ sein lässt. Identität ist keine stabile, sondern eine labile Konstruktion, die sich entlang der uns ständig bewegenden Fragen entwickelt (besonders bei Lebenskrisen): „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwartet uns? “ (Bloch 1976: 1) © Heinz Thiery 2017
Das Wort „Zuhause“ steht in begrifflicher Nähe zum Wort „Heimat“. Frage: Warum wird hier mit dem Begriff „Heimat“ gearbeitet, der im Zusammenhang mit völkischer Ideologie und der vorherrschenden Furcht vor Überfremdung einen negativen Beigeschmack hat? © Heinz Thiery 2017
Antwort: Weil Heimat im hier verwendeten Sinn nicht „Herkunft“ (und somit Vergangenheit) sondern „Ziel“ (und somit Zukunft) bedeutet. Heimat ist eine U-Topie (eine ortlose Projektion). Heimat findet im Kopf statt © Heinz Thiery 2017
Problem: Seine un-heim-liche (negative) Wirkung entfaltet der Begriff „Heimat“ dort, wo er nicht einlösbare Heilsversprechungen transportiert und sich den realen globalen Entwicklungen verweigert – d. h. sich rückwärts gewandt und nationalistisch zeigt. © Heinz Thiery 2017
Heimat und Migration: Migration bedeutet immer Verlust von Heimat (jener Umgebung, wo es Menschen gibt, die man mag, und wo man sich so geben kann, wie man ist, ohne darüber nachdenken zu müssen) und mit dem Verlust der Heimat den Verlust identitätsbildender Ordnung(en). Migranten stellen sich die bange Frage: Kann ich im Zielland heimisch werden? © Heinz Thiery 2017
Gründe für „bange Fragen“: Ortswechsel sind immer riskant. Es ist nicht garantiert, dass die „mitgebrachte“ Identität mit den kulturellen Gepflogenheiten der neuen Umgebung korrespondiert. Falls nein, fühlt sich die neue Umgebung „fremd“ an. Aber: Fremdheit kann abgemildert werden, wenn Ressourcen verfügbar sind, die ein Gefühl von Sicherheit und Rückhalt vermitteln. © Heinz Thiery 2017
Gründe für „bange Fragen“: Wechsel der bislang verbindlichen Zeitschemata sind riskant. Zwar entkommt man dem sich beschleunigenden sozialen Zerfall und der sich beschleunigenden materiellen Zerstörung im Herkunftsland, sieht sich jedoch im Zielland mit einer (sozial wirksamen) Beschleunigung konfrontiert (Rosa 2012), die den Individuen nicht ausreichend Zeit zur individuellen Anpassung zur Verfügung stellt. Denn: Jeder Mensch braucht seine eigene Zeit, um sich zu orientieren, „es ist unsere Dauer, die denkt, fühlt und sieht“ (Virilio 1989: 16). © Heinz Thiery 2017
Identität in der Postmodere: Das Leben in der westlichen („ersten“) Welt ist geprägt von Überfluss, die zur (Reiz-)Überflutung der Individuen führt. Zeit-stabile „Orientierungen“ werden von kurzlebigen „Trends“ abgelöst. Die Subjekte der Postmoderne müssen von einer (vormals) zeitstabilen auf situative Identität umschalten. Von postmodernen Subjekten wird erwartet, kompetent mit Teil. Identitäten umgehen zu können, die je nach Rolle und Situation moduliert werden müssen. © Heinz Thiery 2017
Beschleunigung und Virtualität: Beschleunigter sozialer Wandel sorgt für Verlierer. Immer weniger Menschen können dem Tempo physisch und/oder psychisch folgen. Mediatisierung führt zur Auflösung tradierter Raum-Zeit-Beziehungen: „Medien-Technik heute bedeutet De-territorialisierung“, mit der Folge, dass wir „statt in klar umrissenen Staatsnationen [. . . ] in atopischen Tele-Gemeinschaften [leben]“(Kloock 2007: 153). Digitale Medientechnik kreiert a-topische, „virtuelle (Um-)Welten“, die eine weitgehenden Personalisierung zulassen: den Cyberspace. © Heinz Thiery 2017
Virtualität als Lösung? ! Virtuelle Orte können nach eigenen Bedürfnissen und Wünschen gestaltet werden und versprechen Sicherheit. Die Ursprungsidentität kann an virtuelle Orte dauerhaft ausgelagert werden, um sich bei Bedarf zu vergewissern, wer man aktuell ist, wer man war und vor allem: wer man sein will. Für viele (und nicht nur für Migranten) ist die virtuelle Welt deshalb zum bevorzugten Fluchtziel geworden (Jochum 2003: 45 f. ), weil diese im Gegensatz zur aktualen (realen) Welt - weder politisch noch religiös fundiert ist, sondern technisch-neutral: es gelten für alle Nutzenden die gleichen technischen Bedingungen und die gleichen (technisch determinierten) Beschränkungen. © Heinz Thiery 2017
Definition „Virtuelle Welt / virtueller Raum“: Virtuelle Welt ist die Projektion einer „einigen Welt“ (U-Topie), die immer mehr Menschen realer erscheint als die physische Welt. Die virtuelle Welt hält „Räume“ bereit, in denen unterschiedliche Bedürfnisse ausgelebt und befriedigt werden können. Virtuelle Räume (=> Cyberspace) sind als experimentelle Sozialräume nutzbar. Weitestgehend sanktionsfrei / sanktionsarm erlauben sie ganz unterschiedliche Formen der Selbstdarstellung: faktische, wünschenswerte, aber auch fragwürdige. © Heinz Thiery 2017
Virtuelle Orte und virtuelle Identität: Identitäten, die in virtuellen Umgebungen entstehen und ausgelebt werden, werden im Analogschluss als „virtuelle Identität“ bezeichnet (=> Identitätskonstruktion mit Hilfe technischer Medien). Frage: Wie authentisch ist die virtuelle Identität? © Heinz Thiery 2017
Soziologische Überlegungen zur virtuellen Identität: 1. Der Cyberspace erlaubt die Konstruktion alternativer Identitäten, die im Kontrast zur Alltagsidentität stehen dürfen. 2. Virtuelle Identität kann (im Gegensatz zur Alltagsidentität) selbstbestimmt modelliert werden, u. a. entlang der Fragen: was soll mitgeteilt, was verschwiegen werden? 3. Wegen ihrer Differenz zur Alltagsidentität verdeutlichen virtuelle Identitäten, dass das Fremde nicht nur außerhalb von uns existiert, sondern „in uns selbst ist“ (Kristeva 1990: 208 f. ). © Heinz Thiery 2017
Psychoanalytische Überlegungen zur virtuellen Identität: 1. Mit dem „Unbewussten“ gibt es Etwas, das jedem von uns fremd ist (bis es durch fremde Hilfe dem Bewusstsein zugeführt wird) => Spaltung. 2. Als Erwachsene sind wir „gezwungen“, die Kindheit als etwas „Unwiderbringliches“ zurück zu lassen => Verlust prägt unser Leben. 3. Identität ist die „problematische Verschmelzung“ von Zweifel und Selbstgewissheit (Belsey 2003: 97) => Unabschließbarkeit. Psychologische Konstruktionen führen zur Verabschiedung der Idee eines freien Individuums, denn es ist „Programmen“ unterworfen (die es selbst nicht immer kennt). © Heinz Thiery 2017
Welche Bedeutung haben diese Überlegungen für die Arbeit mit jugendlichen Migranten und dem Einsatz der virtuellen Identität als Ressource für Integration? © Heinz Thiery 2017
Aus dem bisher Gesagten ergeben sich folgende Fragen: 1. Lässt sich die virtuelle Identität in die Alltagsidentität integrieren, mit hilfreichen Auswirkungen? Oder bleibt sie dauerhaft „abgeschieden“? 2. Welche Lerneffekte kann bei der Zielgruppe die Erkenntnis auslösen, dass Identität eine Konstruktion? © Heinz Thiery 2017
Vorteile virtueller Identität: 1. Virtuelle Identitäten können gegen die unvermeidlichen und teilweise bedrohlichen Veränderungen durch Migration stabil gehalten werden (=> Speicherung). 2. Virtuelle Identitäten können Orientierungshilfe sein, wenn man das Gefühl hat, sich verloren zu haben. 3. Virtuelle Umgebungen können Experimentierfelder für kontrastierende Identitätsentwürfe sein (Turkle 1999: 423). © Heinz Thiery 2017
Nachteil der „mitgebrachten“ Identität: Das übermäßige Festhalten an der Identität des Herkunftslandes (Heimatlandes? ) kann Anpassungsleistungen verhindern, wie sie in allen westlichen Kulturen (mit stetig wachsendem Tempo) verlangt werden. Frage: Wie lassen sich Überhöhungen der „mitgebrachten“ Identität verhindern, um notwendige Anpassungsprozesse nicht durch fehlgeleitete Vorstellungen (Illusionen) zu behindern? © Heinz Thiery 2017
Fragen: 1) Können virtuelle Identitäten für die Integration von Migranten genutzt werden? 2) Wenn ja, welche medialen Hilfsmittel sind geeignet (welche Medien, welche Tools)? 3) Wenn ja: welche Beratungsmethoden eignen sich für die „Identitätsarbeit“? Sind diese Methoden in den JMDs verfügbar? 4) Wie gelingt die Adaption der Zielgruppe an Gesellschaften, deren Mitglieder sich nicht mehr über eine einzige Identität, sondern über eine Vielzahl von (rollenabhängigen) Teilidentitäten definieren? © Heinz Thiery 2017
Literatur: Abdelal, R. et. al. (2006): Identity as a Variable. In: Perspectives on Politics. 4/4. , S. 695 -711. Belsey, C. (2003): Poststrukturalismus. Stuttgart: Reclam. Berthold, O. et. al. (2000): Identity Management based on P 2 P. In: Workshop on Design Issues in Anonymity and Unobservability, July 25 -26, S. 1 -20. Jochum, U. (2003): Kritik der neuen Medien. München: Fink. Kloock, D. /Spahr, A. (2007): Medientheorien. Eine Einführung. Paderborn: Fink. Kristeva, J. (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rosa, H. (2012): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Suler, J. R. (2002): Identity Management in Cyberspace. In: Journal of Applied Psychoanalytic Studies. Vol 4 (4), S. 455 -459. Turkle, S. (1999): Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Reinbeck: Rowohlt. Virilio, P. (1989): Die Sehmaschine. Merve: Berlin. © Heinz Thiery 2017
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