Faltbrief von 1877 innerhalb sterreichUngarn in deutscher Schrift
Faltbrief von 1877 innerhalb Österreich-Ungarn in deutscher Schrift nach einem Artikel in der „philatelie“ Ausgabe 491/Mai 2018 von Wolfgang Baldus 05/2018 old-church
Als es noch keine Briefumschläge gab, wurden - wie jeder weiß - die Briefbögen vor der Adressierung zusammengefaltet, die Bogenenden ineinandergesteckt und meist mit Wachs versiegelt. Ist so ein Brief noch (oder wieder) ordentlich zusammengesteckt, und ist er nach philatelistischen Kriterien nicht besonders interessant, macht man sich oft nicht die Mühe, ihn vorsichtig auseinanderzuziehen, um ihn lesen zu können. Doch manchmal lohnt sich das und ein solch unscheinbarer Brief erzählt eine kleine Geschichte, die einen Einblick in die Verhältnisse einer vergangenen Zeit gewährt. Um so einen Faltbrief geht es hier. Es ist ein kleinformatiges Brieflein, das am 28. Dezember 1877 in dem ehemals österreichungarischen Städtchen Neumarkt in Galizien (heute Nowy Targ, Südpolen) aufgegeben wurde und in das etwa 200 km südöstlich gelegene Dorf Mád im Nordosten Ungarns gerichtet war. Nowy Targ (deutsch Neumarkt)
Die Route ging merkwürdigerweise zuerst in die entgegengesetzte Richtung, nämlich nach Krakau, das 65 km nördlich von Neumarkt liegt. Dort bekam der Brief am selben Tag abends einen Transitstempel. Dann ging es nach Süden und zwei Tage später erreichte er Mád, wo der Brief einen Ankunftsstempel vom 30. 12. 1877 bekam.
Mád Der Adressat war der „Wohlgeborene Herr Führer in Mad bey Tokaj“. Das Dorf Mád liegt im berühmten Weinanbaugebiet um das Städtchen Tokaj, und der Herr Führer war offensichtlich ein Winzer, der seine Weine von seinen Angestellten oder Gehilfen ausliefern ließ, die das Geld von den Endkunden nicht nur eintreiben mussten, sondern offenbar auch dafür hafteten. Ein solcher „haftender Auslieferer“ war der Briefschreiber Franz Stanko. Er hatte im Auftrag des Winzers eine Ladung Wein an ein Kloster geliefert und wurde als kleiner Lieferant von den hochwürdigen Herren, die es mit der Bezahlung anscheinend nicht eilig hatten, schlicht ignoriert. Der dadurch in Bedrängnis geratene Stanko, der das Geld ja an seinen Chef (Vorgesetzten? Herrn? Arbeitgeber? ) abliefern musste, schrieb daher an diesen folgende Zeilen:
„Neumarkt den 28 ten Dezember 877 / Wohlgeborene Herr Führer / Ich bitte Sie untertänig mir noch Par Wochen zu dulden weil ich noch für die Weine das geld nich einkasird habe wen ich mer bekomm so werde ich Sie nach neue Jahre selbst besuchen und die Schuld bezalen …… [unleserlich] die Weine ist eine Kloster par mal war ich dorten und par mal hab ich gesriben immer sagen mir ob bisel warten / ergebenster diener Franz Stanko”.
Kloster Szczyrzyc Das besagte Kloster könnte die bereits im Jahr 1234 gegründete und heute immer noch bestehende Zisterzienserabtei mit dem wahrlich unaussprechlichen Namen Szczyrzyc gewesen sein, die etwa 30 km nordöstlich von Nowy Targ liegt. Stanko hatte also mehrmals an das Kloster geschrieben und auch mehrmals persönlich dort vorgesprochen, war aber immer vertröstet worden. Dass er von seiner „Schuld“ spricht, die er nach Neujahr persönlich begleichen wolle, zeigt, dass nicht etwa der säumige Kunde, sondern der ausliefernde Angestellte für den ausstehenden Betrag haftete, was wiederum einiges über das damalige Abhängigkeitsverhältnis der kleinen Leute von manchen Arbeitgebern aussagt. Man kann nur hoffen, dass die hohe Geistlichkeit ihrer Zahlungsverpflichtung nachgekommen ist. Der Brief erzählt nur eine kleine Episode, gewiss, bietet aber doch ein Einblick in die Lebensverhältnisse einfacher Leute, die sicher keine gute Schulbildung genossen und sich mit dem Formulieren schwer getan haben. Ein Stück Alltagsgeschichte, die manchmal interessanter ist, als die große Politik. Man muss solche Belege aufbewahren und übersetzen, denn schon bald wird sie kaum einer mehr lesen können.
deutsche Schrift: Weintransporte im 19. Jahrhundert Herzlichen Dank an den Autor Wolfgang Baldus für die Genehmigung und der freundlichen Bereitstellung der Originalbilder des Briefes und des Begleittextes. Arrangement und Illustrationen: old-church Technische Bearbeitung: Erika 05/2018 old-church
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