Einfhrung in die Sprachvermittlung 10 Das Schriftsystem 1
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Einführung in die Sprachvermittlung 10. Das Schriftsystem
1. Ist Schrift ein System? • Moderne Sprachwissenschaft (seit 20. Jhdt. ) • Vorrang der gesprochenen Sprache: phylogenetisch (Geschichte) ontogenetisch (Spracherwerb) • Schriftregelungen unsystematisch, normativ, kasuistisch • Schrift = einfache Wiedergabe von Strukturen des mündlichen Dependenzthese • Ältere Sprachwissenschaft (Antike, Frühe Neuzeit, 19. Jhdt. ) • Sprache = Schriftsprache • Grammatik = „Lehre von den Buchstaben“ • Mündliche Sprache = fehlerhafte Realisierung von Sprache These der primären Schriftlichkeit von Sprache
Schriftsprache als System (Graphematik vs. Orthographie) Dependenzthese: • Primat genuin mündlicher Strukturen • Ideale Orthographie als Phonographie: „Lauttreue“ = Fixierung phonetisch-phonologischer Einheiten • Grapheme von Phonemen abzuleiten • Markierung lautlicher Strukturen in der Schrift vorrangig Autonomiethese • Primat genuin schriftsprachlicher Strukturen • Ideale Orthographie als Logographie = Fixierung grammatischer Einheiten • Grapheme als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten in der Schrift nicht auf Phoneme reduzierbar • Markierung syntaktischer und morphologischer Strukturen vorrangig
Das Schriftsystem • Teil des Sprachsystems • eigenständige Funktionsweise, nicht nur aus Phonologie abgeleitet • wachsende Bedeutung in modernen Gesellschaften • Kann man Schriftsprache lehren? • Frage des Lehrens hier zugespitzt: Erwerb des Systems nur ein selbst gesteuerter Prozess wie erster Spracherwerb auch?
2. Schriftsystem = Wörter + Regeln? [dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] S NP +VP NP Det + N VP V+PP+NP VPrät Stamm+te Pbei NP (Dat) [²an] [²a: bait] [bai] [dεǎ] [di: ] [fy: sikǎ] [meto: də] [wεnd-] [want-] [-tə]
Vorgehensweise in Abschnitt 3 (Weingarten 2001, S. 140 -145): • Vom Gesprochenen zum Geschriebenen • Interaktion vom sprachlichem Lexikon und sprachlichen Regeln (gesprochener Input) • Weiterverarbeitung durch graphematische Regeln • Graphematische Struktur (geschriebener Output) • Vom Text zum Phonem (von den größten zu den kleinsten Einheiten)
[dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] 1. S NP +VP NP Det + N VP V+PP+NP VPrät Stamm+te Pbei NP (Dat) 1. {S {W 1…Wn}} ( GW 1…Wn Pkt) G = Großschreibung, Majuskel Pkt = Punkt <D(R 1)εǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘t o: də ²an. (R 1)>
2. 1. Interpunktion: Textstruktur Beispiel 1: Hauptsatz („Ganzsatz“) Graphematisches Regelsystem Input Regel {S {W 1…Wn}} Output (GW 1…Wn Pkt) <GW 1><W 1…Wn><. > Beispiel 2: Subordination (aus Weingarten 2001, S. 141)
[dεǎ’fy: sikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] 1. S NP +VP 2. NP Det + N VP V + PP + NP VPrät Stamm+te Pbei NP (Dat) 1. S (W 1…Wn) <GW 1…Wn Pkt> 2. (W 1, W 2, W 3) (W 1 SP W 2 SP W 3) SP = Spatium, Leerzeichen (#) <D(R 1)εǎ#(R 2)’fy: zikǎ#(R 2)’vantə# (R 2)bai#(R 2)dεǎ’#(R 2)²a: bait#(R 2)di: # (R 2)me‘to: də#(R 2)²an. (R 1)>
2. 2. Wortsegmentierung aus Weingarten 2001, S. 141 - Die Segmentierung graphischer Wörter ist nicht willkürlich, sondern baut auf dem syntaktischen Modul des Sprachsystems auf. - syntaktisch nicht weiter zerlegbare Einheiten von Phrasen sind „Wörter“ (vgl. die Diskussion bei Pinker S. 31)
1. S NP +VP 2. NP Det + N VP V+PP+NP [dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] 3. NP Det + N VPrät Stamm+te Pbei NP (Dat) 1. S (W 1…Wn) <GW 1…Wn Pkt> 2. (W 1, W 2, W 3) <W 1 SP W 2 SP W 3> 3. (NP (det. W 1) (NW 2)) <…KW 1 GW 2…> K = Kleinschreibung (Minuskel) G = Großschreibung (Majuskel) <[D(R 1)εǎ (R 2)F(R 3)y: zikǎ] (R 2)’vantə (R 2)bai [(R 2)dεǎ’ (R 2)A(R 3): bait] (R 2)[di: (R 2)M(R 3)e‘to: də] (R 2)²an. (R 1)>
2. 3. Wortinitiale Großschreibung - Syntaktische Herleitung der satzinternen Großschreibung: Der Kopf der Nominalgruppe (N) wird groß geschrieben. - Die vorangehenden Wörter in der NP werden klein geschrieben, ebenso die Köpfe der VP und der PP.
[dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] 1. S NP +VP 2. NP Det + N VP V+PP+NP 3. NP Det + N 4. VPrät Stamm+te Pbei NP (Dat) 1. S (W 1…Wn) <GW 1…Wn Pkt> 2. (W 1, W 2, W 3) <W 1 SP W 2 SP W 3> 3. (NP (det. W 1) (NW 2)) <…KW 1 GW 2…> 4. (STwan. Sutə) (Rfwend-en) (STwand. Sutə) <D(R 1)εǎ (R 2)F(R 3)y: zikǎ (R 2)vand(R 4)tə (R 2)bai (R 2)dεǎ’ (R 2)A(R 3): bait (R 2)di: (R 2)M(R 3)e‘to: də (R 2)²an. (R 1)>
2. 4. Wortschreibung • Bei der Wortschreibung interagieren eine morphologische und eine phonologische Komponente. • Vorrang hat die Morphologie, da sie Wörter in Einheiten gliedert, die in der Schrift sichtbar bleiben sollen, also z. B. die Stammkonstanz (wandte – wenden) • Die Anwendung dieser Regel setzt den Bezug zu einer Referenzform voraus, in der die Lautung des Stammes isoliert „hörbar“ ist. (Solche Formen sind meistens zweisilbig!)
Weingarten 2001, S. 143 1 2 3 1 – morphologische Zergliederung des Wortes 2 – Suche nach Referenzform mit phonologischer Schreibung 3 – phonologische Komponente: Phonem-Graphem. Korrespondenzen (GPK-Regeln) s. u.
Vom Lexikon über das graphematische Regelsystem GPKRegeln: ai <ei> ǎ <er, r> ε <e> ə <e> i: <ie> y: <ü> o: <o> z <s> v <w> f <f> t <t> … [dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] [²a: bait] [bai] [dεǎ] [di: ] [fy: zikǎ] [meto: də] [vεnd-] [vant -] [-tə] <D(R 1)er (R 2)F(R 3)üsiker (R 2)wand(R 4)te (R 2)bei (R 2)der (R 2)A(R 3)beit (R 2)die (R 2)M(R 3)etode (R 2)²an. (R 1)>
2. 5. Phonem-Graphem. Korrespondenzen • Dieser graphematische Regelteil greift unmittelbar auf das Lexikon zu. • Es gibt trotzdem enge Bezüge zum sprachlichen Regelteil, da dieser ja auch die Phonologie umfasst. Der Status eines Lauts als Phonem ergibt sich aus dem phonologischen System • Die reine Anwendung der GPK-Regeln führt nicht in allen Fällen zu korrekten Schreibungen • Der Schreiber muss daher auch auf spezielle Einträge in seinem „orthographischen“ bzw. graphematischen Lexikon zurückgreifen!
Vom Lexikon über das graphematische Lexikon: Blockierung der GPK! GPK-Regeln: ai <ei> ǎ <er, r> ε <e> ə <e> i: <ie> y: <ü> o: <o> z <s> v <w> f <f> t <t> … [dεǎ’fy: zikǎ’vantəbaidεǎ’²a: baitdi: me‘to: də ²an] [²a: bait] [bai] [dεǎ] [di: ] [fy: zikǎ] [meto: də] [vεnd-] [vant -] [-tə] Blockierung <Physiker> <Methode> <Arbeit> … <D(R 1)er (R 2)P(R 3)hy(Lex)siker (R 2)wand(R 4)te (R 2)bei (R 2)der (R 2)Ar(Lex)(R 3)beit (R 2)die (R 2)M(R 3)eth(Lex)ode (R 2)²an. (R 1)>
3. Das Dual Route Cascaded Model (Coltheart et al. ) = kaskadenförmiges Zwei-Wege-Modell (der Verarbeitung geschriebener Wörter) - Umgekehrter Weg: vom Geschriebenen zum Erkennen und lauten Lesen von Wörtern - Bezieht sich nur auf die phonologische Komponente des Schriftsystems - Ineinandergreifen von Lexikon und regelbasierter Sprachverarbeitung (GPK)
Dual Route Cascaded Model (Coltheart et al. 2001) Gedruckter Text: Visuelle Merkmalseinheiten Buchstaben-Einheiten Orthographisches Input-Lexikon Graphem-Phonem. Regelsystem Semantisches System Phonologisches Output-Lexikon Phonetisches System Gesprochene Sprache
Besonderheiten des Modells • Keine Schwellenwerte Jeder Weg wird auch bei schwachen Impulsen aktiviert; die Verarbeitung läuft auf beiden Wegen parallel weiter (wie bei Kaskaden z. B. eines Springbrunnens) • Den Ausschlag gibt nicht einfach das Lexikon. Vielmehr kann es passieren, dass regelbasierte Information früher eintrifft als lexikalische. Der Konflikt löst Verzögerungen beim Lesen aus. • Semantische Information wird mit genutzt. So wird ein Pseudowort wie „louch“ als [lautsch] analysiert, wenn vorher das Wort „sofa“ aktiv war, dagegen als [latsch], wenn vorher „touch“ aktiv war. (S. 147) • Die Phonem-Graphem-Analyse erhält also parallel assoziative Informationen aus dem semantischen über das lexikalische System.
Anwendbarkeit auf das Deutsche? • Die Ausgangswörter sind nur einsilbig. Im Deutschen sind prototypische Wörter zweisilbig. • Die GPK-Analyse ist nur segmental (im Englischen: 164 Regeln!); im Deutschen intervenieren auch silbische und weitere grammatische Prinzipien. • Der Zwischenschritt über die morphologische Analyse (Referenzform) fehlt. (S. 149)
Zusammenfassung • Das deutsche Schriftsystem basiert aus linguistischer Sicht auf einem Zusammenspiel syntaktischer, morphologischer, phonologischer (in Teilen auch semantischer und pragmatischer) Strukturen. • Diese werden von dem graphematischen Regelmechanismus aus dem generierten sprachlichen Strukturformat abgerufen. • Der graphematische Regelmechanismus definiert also seinen eigenen Input, den er dann in die spezifisch graphematischen Ausdrucksmittel übersetzt. • die verbleibenden, im Rahmen dieses Modells als irregulär erscheinenden Ausdrücke können dem graphematischen Lexikon zugeschlagen werden. • Nach Ökonomieprinzipien wird dabei versucht, den regelbasierten Anteil so groß wie möglich und den lexikalischen so gering wie möglich zu gestalten.
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