Arbeit in der Psychiatrie im frhen 20 Jahrhundert
Arbeit in der Psychiatrie im frühen 20. Jahrhundert – zwischen Therapie und Ökonomie Dr. Felicitas Söhner Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Universität Düsseldorf felicitas. soehner@hhu. de
Inhalt • Arbeit und Institution Psychiatrie • historische Entwicklungslinien • Psychiatrie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges • Reformpsychiatrie der Zwischenkriegsjahre • Arbeiten im Alltag einer Heil und Pflegeanstalt • Arbeit, Lohn und Selbstwert • Arbeitstherapie als moralische und physische Behandlung
Arbeit und Institution Psychiatrie • Phasen großer Wertschätzung und Phasen von Desinteresse oder Ablehnung • Bereits in den ersten psychiatrischen Einrichtungen Patienten im landwirtschaftlichen, handwerklichen oder hauswirtschaftlichen Bereich beschäftigt • Ende des 19. Jhs. Arbeit als therapeutische Maßnahme diskutiert • Beginn 20. Jhs. : Arbeitstherapie‘, ‚Beschäftigungsbehandlung‘, ‚aktivere Krankenbehandlung (E. Bleuler, G. C. Schwarz) • insbesondere motivierend: therapeutische und ökonomische Interessen • Bleuler (1911): „Am meisten wird die Arbeitstherapie allen Anforderungen gerecht. Sie übt die normalen Funktionen der Psyche, gibt unaufhörlich Gelegenheit zu aktivem und passivem Kontakt mit der Wirklichkeit, übt die Anpassungsfähigkeit, zwingt dem Patienten die Gedanken ans normale Leben draußen auf.
Historische Entwicklungslinien • 1. WK: scheinbare therapeutische Erfolge in der Behandlung von ‚Kriegsneurotiker‘ Aufbruchsstimmung • Veränderte Versorgungsbedingungen für Gesellschaft, zunehmend Engpässe • Militärische Mobilmachung dramatische Personalengpässe • „kriegsbedingte Leutenot“ (Jahresbericht KB 1915) • Arbeitskraft psych. Erkrankter und Kriegsversehrter sollte „nutzbar gemacht werden“ (Erlass Bay. Kriegsministeriums Mai 1917) • Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit als wesentlicher Bestandteil des Therapiekonzepts + Einsparungen im Gesundheitswesen • Ziel: weniger nachhaltige Rehabilitation der Patienten, vielmehr kurzfristige Restauration der Einsatzfähigkeit
Forschungsstand • Ankele, Monika; Brinkschulte, Eva (eds. ), Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag: Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS Zeit, Stuttgart 2015. • Ernst, Waltraud; Müller, Thomas (eds. ), Social and Cultural Histories of Psychiatry in Comparative Perspective c. 1800 2000, Cambridge 2010. • Schmiedebach, Hans Peter (ed. ), Am Rande des Wahnsinns – Psychopathie und Psychopathologisierung um 1900, Schriften des Historischen Kollegs, München 2016. • Schmuhl, Hans Walter ; Roelcke, Volker (eds. ), „Heroische Therapien“: Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918– 1945, Göttingen 2013.
Methoden und Quellen • Selektive Literaturrecherche (Primär , Sekundärliteratur) • Recherche in Aktenbestand (Patientenakten, Jahresberichte, Verwaltungsakten)
Philippe Pinel - traitement moral • Im Zuge der Aufklärung in der 2. Hä. des 18. Jhdts. Humanisierung in der Behandlung • Bewohner nicht mehr wie Tiere, sondern wie kranke Menschen behandelt • Pinel: 1792 Leitung des Hospice de Bicêtre, später des Hôpital de la Salpetrière • philosophische Nosographie: Ziel der systematischen Klassifikation psychischer Störungen, Abgrenzung der démence senile vom angeborenen Schwachsinn • Form des Umgangs mit den Kranken gekennzeichnet durch Zuwendung und Milde. Befreiung der Kranken von ihren Ketten, allerdings Ersatz durch Zwangsjacken und andere Zwangsmittel • ”traitement moral” oder ”regime moral” beispielgebend für die Entwicklung der Psychiatrie in Europa Philippe Pinel (1745 – 1826)
William Tuke - moral treatment • York Retreat, 1794 durch Quäker William Tuke eröffnet • Wendepunkt in der Behandlung psychischer Krankheiten • Moralische Therapie: Menschlichkeit, Freundlichkeit und Vernunft, Arbeitstherapie , Regelmäßigkeit, Ernährung, Erholung, Selbstwertgefühl • Bedeutung der Familie und religiöser Rahmen • Behandlungskonzept: moral treatment Moralische Behandlung war im beginnenden 19. Jahrhundert vorherrschend • Vorläufer der heutigen Sozialpsychiatrie Moralische Behandlung • Respekt für den Patienten • Tagesordnung • Religiöse Übungen • Körperliche Übungen William Tuke (1732 1822) • Vergnügungen, Spiele, Musizieren • Garten und Landarbeit
Gustav Kolb - Offene Irrenfürsorge • Als wichtigste Maßnahme gegen die Überfüllung der Anstalten galt die Organisation von Fürsorgemaßnahmen außerhalb der Anstalt • Prinzipien: Nachgehende Fürsorge Prophylaxe von Neuaufnahmen • Zwei Modelle der Offenen Fürsorge: 1. Anstalt als Zentrum (Erlanger Modell/Kolb 1908) 2. Gesundheitsamt als Zentrum (Gelsenkircher Modell/ Wendenburg 1920) Gustav Kolb (1879 – 1938)
Psychiatrische Versorgung vor dem Ersten Weltkrieg • GZ: erste Patienten möglichst arbeitsfähige Personen zum Aufbau von Gutshof, Gärtnerei, Bäckerei, Metzgerei, Werkstätten und Betrieb der Heil und Pflegeanstalt • KB: trotz Arbeitskräftemangel Personal nach GZ Jahresbericht GZ 1915: „stellten (. . . ) die Kranken eine nennenswerte Arbeitskraft für Garten und Gutshofbetrieb dar, die besonders bei dem Mangel an Arbeitskräften im allgemeinen nicht zu unterschätzen ist. “
Arbeiten im Alltag einer Heil- und Pflegeanstalt • Jahresbericht GZ 1915/16: „Für die weiblichen Kranken ergibt sich reichlich Gelegenheit in der Kochküche, in der Gemüseküche, Waschküche, Bügelsaal, Nähsaal, sodann auch im Garten und in der Landwirtschaft“ • Jahresbericht GZ 1918: „Besonderen Wert wird auf die Beschäftigung der Kranken gelegt, wofür reichliche Gelegenheit in der Landwirtschaft, Gärtnerei, den grossen Zieranlagen, Werkstätten, in Holzstadel, Kohlenkeller, Küche, Wäscherei, Nähzimmer vorhanden ist. 40 – 50% der Kranken sind beschäftigt. “
Beschäftigungsgrad in Prozent Vgl. Deutschland - Schweiz Quelle Burghölzli/ Rheinau: Meier 2007
Hausordnung 1918: Pat. im Sommer nach dem Frühstück, im Winter um 8 Uhr an die ihnen zugewiesene Beschäftigung gehen. Die auf dem Gutshof beschäftigten Kranken sollten zur Bestell und Erntezeit je nach Bedürfnis früher beginnen. Um 11 Uhr vormittags sollten alle beschäftigten Kranken in Mittagspause gehen. Nachmittags dauert die Arbeitszeit von 14 bis 17 Uhr im Winter, bzw. 18 Uhr im Sommer. Vor und nachmittags sollte je eine halbstündige Pause eingehalten werden
Breites Arbeitsspektrum • Arbeitsbuch Tapeziererei / Sattlerei KB 1914: „Zwangsjacke für Sanitätskolonne, Riemenzeug angenäht, Für Kolonie eine Ochsenhalfter Repariert. Maschinenhaus einen Riemen gut repariert. Eßkasten neu mit Gobelin bespannt. 2 Sessel Bezug abgeschlagen, Polsterung ausgebessert neu bezogen und fertig gemacht bis zu den Borten. “ • Jahresbericht KB 1915: „ 121 Kopfkissenbezüge für 2. Klasse, 475 Kopfkissenbezüge für 3. Klasse, 57 Kopfkissenbezüge bunt. . . 150 Tischtücher, 3 Dutzend Servietten, 33 Herrenhemden, 30 Frauenhemden, 20 Feste Hemden, 7 Frauenkleider, 119 Pflegerschürzen, 70 Pflegerinnenschürzen, 54 Küchenschürzen, 20 Häubchen für Küchenmädchen, 161 Arbeitsschürzen, 23 Schürzen fürs Leichenhaus“
Kriegsbedingter Arbeitskräftemangel • Folgen des Ersten Weltkrieges spürbar • Personalmangel in der Ärzteschaft, der Pflegerschaft, wie auch in den Werkstätten • Jahresbericht KB 1916: kriegsbedingtes Fehlen geschulter Arbeitskräfte • Jahresbericht KB 1917: Schlosserei und der Heizungsbetrieb aufgrund Personalmangels nur mit einem 65 jährigen Aushilfsmaschinisten, einem älteren Schlossergehilfen und einem Patienten als gelernten Heizer aufrechterhalten • Mitarbeit des beaufsichtigenden Personals im handwerklichen, haus und landwirtschaftlichen Bereich war obligatorisch
Reformpsychiatrie der Zwischenkriegsjahre • • • um 1900: allgemeine Akzeptanz der umliegenden Bevölkerung, jedoch auch Schwierigkeiten geeignete Pflegefamilien für die Patienten zu finden während des 1. Weltkriegs: Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse, Wohnungsnot immer geringere Bereitschaft in der Bevölkerung zur Familienpflege Nach Ersten Weltkrieg: größere Tendenz hin zur auf Aufklärung und Prävention setzenden „Offene Fürsorge“ (Beddies/Hübener 2003 S. 12). Hermann Simon wird als Vater der Arbeitstherapie bezeichnet. Er wirkte nach dem ersten Weltkrieg als leitender Arzt, vor allem im Landeskrankenhaus Gütersloh. Nach einer medizinischen Phase, in der auch für psychisch kranke Menschen „Bettruhe" verordnet wurde, weckte Simons Aufforderung zur „aktiven Krankenbehandlung" (Simon 1929) neue Impulse. Zwischenkriegszeit: Bericht über die ökonomischen Vorteile der „wohlausgebaute(n) offene(n) Fürsorge für Gemüts- und Nervenkranke in Bayern. . . , in Ostpreußen, im Rheinland und in Schlesien. “ (Zschr für psych Hygiene 3 – 6/1931 S. 105). Nationalsozialismus: sozialpsychiatrische Ansätze beinahe ganz eingestellt
Hermann Simon – Systematische Arbeitstherapie • • Begründer modernen, psychiatrischen Arbeitstherapie Kritik an passiver Verwahrung von Patienten Förderung deren gesunder Anteile Wahrnehmung der günstige Wirkung von Arbeitseinsätzen auf dem Klinikgelände Unterstützung ambulanter Konzepte der „offenen Fürsorge“ in der Weimarer Republik (G. Kolb, F. Wendenburg). Gütersloh: fünfstufiges Leistungssystem, paternalistisch verordnete Methode Individuelle Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit bestimmten die Bewertung des Rehabilitationserfolgs (vgl. Simon 1931) verkürzte aber nicht die Aufenthaltsdauer der Patienten Simons Konzept: 1920 er international rezipiert, sowie erneut 1970 er/80 er (dt. Psychiatriereform) Hermann Simon (1867 – 1947)
Weitere Entwicklung arbeitstherapeutischer Ansätze • Niedergang in der Zeit des Nationalsozialismus • Nach 1975 Verzögertes Wiederaufgreifen nach den Psychiatrie Reformen • 1984: Lehmann & Kunze: Arbeitstherapie in psychiatrischen Krankenhäusern. Leitlinien und Bestandsaufnahme • Seit 2000: An Produktivität und beruflicher Teilhabe orientierte Ergotherapie
Arbeit, Lohn und Selbstwert • Verbesserung der eigenen Versorgungssituation • Möglichkeit zu erweiterten sozialen Kontakten und bis zu einem gewissen Grad auch ihrer räumlichen Freizügigkeit • Gewisse Handlungsautonomie und Unabhängigkeit • Zwei Formen der Entlohnung: ‚Kostzulagen‘ (Zigarren, Tabak, Kleidung, Uhren, Instrumente) + Geld • Jahresbericht GZ 1915/16: „die regelmässigen tüchtigeren Arbeiter erhielten neben Kostzulagen eine Geldentlohnung innerhalb der uns gesteckten Grenzen, wöchentlich 1. - – 3. -M(ark)“ • erneute Konjunktur der Zwischenkriegszeit weniger therapeutisch oder humanitären sondern mehr pragmatischen Motiven geschuldet Geschichte der Familienpflege im frühen 20. Jahrhundert spiegelt Krise der zeitgenössischen psychiatrischen Fürsorge als Sozialfürsorge wider
Arbeitstherapie als moralische und physische Behandlung • psychiatrische Versorgung während des Ersten Weltkrieges orientierte sich in ihrem therapeutischen Handeln weitgehend an den Erfordernissen der Welt außerhalb der Anstalt • Fokus auf die Arbeitsfähigkeit des Individuums • Bleuler: Arbeitstherapie zur Assoziationsfähigkeit des Einzelnen an die Gesellschaft • Frühes 20. Jh. : ca. 40% der Patienten in und außerhalb der Einrichtungen arbeitend • Tätigkeitsfelder: v. a. einrichtungseigene Werkstätten, Haus und Landwirtschaft • Umfangreiche Leistungen + breiter Einsatz v. Patienten Gewährleistung der Versorgung, tatsächlicher therapeutischer Nutzen nachrangig Grenzen zwischen therapeutisch sinnvoller Arbeitstherapie und wirtschaftlicher Ausnutzung psychisch Kranker fließend
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Felicitas Söhner Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Universität Düsseldorf felicitas. soehner@hhu. de
Literatur • • • Ankele, Monika / Brinkschulte, Eva (Hg. ): Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS Zeit, Steiner Verlag 2015 Ernst, Waltraud (Hg. ) Work, Psychiatry and Society, c. 1750 2015, Manchester University Press 2016. Eschenbruch, Nicholas / Hänel, Dagmar / Unterkirchner, Alois (Hg. ), Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, transkript Verlag, Bielefeld 2010. Fangerau, Heiner / Nolte, Karen (Hg. ): „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik, Steiner Verlag, Stuttgart 2006. Frank, Michael C. / Gockel Bettina / Hauschild Thomas / Kimmich Dorothee / Mahlke Kirsten (Hg. ), Räume, transkript Verlag, Bielefeld 2008 Lerner, Paul: Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890 – 1930, Cornell University Press, Ithaca/London 2003. Meier, Marietta / Bernet, Brigitta / Dubach, Roswitha / Germann, Urs: Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870 – 1970, Chronos Verlag, Zürich 2007. Schott, Heinz / Tölle, Rainer, Geschichte der Psychiat rie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen, München 2006 Schmuhl, Hans Walter / Roelcke, Volker (Hg. ): „Heroische Therapien“: Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918– 1945, Göttingen 2013 Tramer, Moritz: Arbeitstherapie. Über ihre Grundlagen, insbesondere die suggestiven Momente, in: Schweizerisches Archiv für Neurologie und Psychiatrie 21/1927, S. 187 – 213 und 22/1928, S. 122 – 144. Walter, Bernd: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS Regime. Paderborn 1996.
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