Aktuelles Kndigungsrecht Hamburg 31 Mai 2017 I Formalien
Aktuelles Kündigungsrecht Hamburg – 31. Mai 2017
I. Formalien der Kündigung II. Betriebsbedingte Kündigung III. Verhaltensbedingte Kündigung IV. Betriebsratsanhörung
I. Formalien der Kündigung
„Vorfeldarbeit“ des Arbeitgebers vor Ausspruch der Kündigung: • Fristberechnung • Zustimmungs- und Anhörungserfordernisse • Schriftformerfordernis (§ 623 BGB) • kein Begründungserfordernis (Festlegung? ) • Hinweispflichten im Kündigungsschreiben • Zugangsnachweis • Absicherung für Kündigungsschutzprozess
Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung I (kein Datum genannt) BAG Urt. v. 20. 06. 2013 – 6 AZR 805/11 • es muss erkennbar sein, wann das Arbeitsverhältnis enden soll • Angabe des Termins oder Frist ausreichend • Hinweis auf gesetzliche Frist reicht aus
Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung II (falsche Frist genannt) BAG Urt. v. 15. 05. 2013 – 5 AZR 130/12 • „fristgemäß zum …“ mit fehlerhafter Angabe ist auslegbar, wenn Arbeitnehmer erkennen kann, dass Arbeitgeber korrekte Frist will • kein Verstoß gegen Bestimmtheitsgebot, wenn (nur) gesetzliche Kündigungsfristen anwendbar und mit einfachem Rechenschritt ermittelbar
Zugang einer Kündigung am Sonntag LAG Schleswig-H. Urt. v. 13. 10. 2015 – 2 Sa 149/15 • Arbeitnehmer muss nicht mit Postzugang am Sonntag rechnen • keine Verpflichtung zum Nachsehen im Hausbriefkasten • gilt selbst dann nicht, wenn Arbeitnehmer um Ablauf der Wartezeit nach KSch. G weiß
Zurückweisung der Kündigung nach § 174 BGB: „ … ist unwirksam, wenn der Bevollmächtigte eine Vollmachtsurkunde nicht vorlegt und der andere das Rechtsgeschäft aus diesem Grunde unverzüglich zurückweist. “ nicht: • „ … wegen fehlender Vollmacht“ • „ … wegen nicht nachgewiesener Bevollmächtigung“
II. Betriebsbedingte Kündigung
Struktur der betriebsbedingten Kündigung 1. Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse, die den Beschäftigungsbedarf im Betrieb vermindert haben 2. fehlerfreie Sozialauswahl 3. keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit
Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse Ausgangspunkt: Überhang an Arbeitskräften nicht: Umsatzrückgang, Auftragswegfall, Gewinneinbruch, Lizenzentzug, Insolvenz o. ä.
außerbetriebliche Gründe innerbetriebliche Gründe gestaltende unternehmerische Entscheidung Überhang an Arbeitskräften Kündigung
außerbetriebliche Gründe innerbetriebliche Gründe • Auftragsrückgang • Umsatzrückgang • verschlechterte Ertragslage • Kundenverlust • Rohstoffmangel • Wegfall von Fördergeldern • Tarifentwicklung • politische Ursachen • Rationalisierung • Betriebsstilllegung • Betriebseinschränkung • Outsourcing • Strukturveränderung • Änderung der Produktionsmethoden
außerbetriebliche Gründe innerbetriebliche Gründe Stützt sich der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess auf bestimmte außer- und/oder innerbetriebliche Gründe, muss er das zugrunde liegende Zahlenmaterial bei Gericht vorlegen, z. B. • • • Bilanzen Auftragsbestände Ertragsentwicklung Kundenkündigungen Fremdverträge
gestaltende unternehmerische Entscheidung Aufgrund der außer- und/oder innerbetrieblichen Ursachen wird eine „freie“ unternehmerische Entscheidung getroffen, infolge derer ein Überhang an Arbeitskräften entsteht.
gestaltende unternehmerische Entscheidung • geschützt durch Art. 14 Abs. 1 GG • gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar auf offenbare Unsachlichkeit, Unvernunft oder Willkür • nicht überprüfbar auf Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit oder Sinnhaftigkeit • tatsächliche Entscheidung voll überprüfbar • oft entbehrlich bei bereits erfolgter Umsetzung
Organisationsentscheidung bei Fremdvergabe von Tätigkeiten BAG Urt. v. 20. 11. 2014 – 2 AZR 512/13 • unternehmerisch-organisatorische Maßnahme muss bei Zugang der Kündigung noch nicht tatsächlich umgesetzt sein • konkretes und greifbares Abzeichnen reicht aus • Willensbildung muss beim Arbeitgeber aber bereits abgeschlossen sein • weder Vertragsschluss mit Externen noch Umsetzungsbeginn muss erfolgt sein
Überhang an Arbeitskräften Aus der gestaltenden unternehmerischer Entscheidung muss sich ein Überhang an Arbeitskräften ergeben. Dieser ist nicht selbsterklärend und muss ggf. rechnerisch nachvollziehbar bis auf eine heruntergebrochene Kopfzahl dargestellt werden.
Überhang an Arbeitskräften Für den Arbeitgeber einfach darzustellen bei • • Abteilungsschließung Outsourcing Betriebsschließung Wegfall einzelner Arbeitsplätze Schwieriger darzustellen bei Volumenentscheidungen
Überhang an Arbeitskräften • betriebsbezogene Sichtweise, aber ggf. unternehmensweite Weiterbeschäftigung bedenken • muss sich nicht auf einen konkreten Arbeitsplatz oder Arbeitnehmer beziehen
Besondere Fallgruppen: • „Austauschkündigung“ gegen Leiharbeit und Werkverträge • geänderte Tätigkeitsprofile • Wegfall eines einzelnen Arbeitsplatzes
Bei der Sozialauswahl sind allein folgende Kriterien maßgeblich (§ 1 Abs. 3 KSch. G): 1. Dauer der Betriebszugehörigkeit 2. Lebensalter 3. Unterhaltsverpflichtungen 4. Schwerbehinderung
Sozialauswahl – Unterhaltsverpflichtung. /. Betriebszugehörigkeit BAG Urt. v. 29. 01. 2015 – 2 AZR 164/14 • drei Jahre längere Betriebszugehörigkeit wiegt drei Unterhaltsverpflichtungen nicht auf, wenn Unterhaltsverpflichteter seinerseits sechs Jahre betriebszugehörig • individuelle Unterschiede sind abzuwägen • nur deutlich schutzwürdigerer Mitarbeiter kann sich auf Fehlerhaftigkeit berufen
Von der Sozialauswahl kann der Arbeitgeber Arbeitnehmer ausnehmen, deren Weiterbeschäftigung wegen • • oder ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs im berechtigten betrieblichen Interesse liegt (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSch. G).
Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit Ausgangspunkt: Der Arbeitnehmer muss den freien Arbeitsplatz bezeichnen, auf dem er aus seiner Sicht weiterbeschäftigt werden kann. Nicht ausreichend: bloße Tätigkeitsinhalte oder Ideen zur Stellenschaffung
Weiterbeschäftigung ist grundsätzlich unternehmensweit geschuldet, aber • Arbeitsvertrag muss Versetzung hergeben • eine Änderungskündigung kann im Raum stehen • auch zu verschlechternden Konditionen
III. Verhaltensbedingte Kündigung
Überwachungsrecht an E-Mails der Arbeitnehmer – EGMR Urt. v. 12. 01. 2016 – 61496/08 • dienstlicher E-Mail-Account darf zur Überprüfung der ausschließlich dienstlichen Nutzung überwacht werden • kein Verstoß gegen Privat- und Familienleben, der Wohnung und der Korrespondenz (Art. 8 EMRK)
Kündigung wegen Alkoholsucht BAG Urt. v. 20. 03. 2014 – 2 AZR 565/12 • Beeinträchtigung betrieblicher Interessen kann auch aus Eigen- oder Fremdgefährdung folgen • Kündigungsmöglichkeit, wenn AG jederzeit mit einer Beeinträchtigung der Arbeitssicherheit rechnen muss
Kündigung wegen Drogenkonsums BAG Urt. v. 20. 10. 2016 – 6 AZR 471/15 • Konsum von Crystal Meth rechtfertigt Kündigung eines LKW-Fahrers • unbeachtlich, ob Konsum in Freizeit oder währender Arbeitszeit
Kündigung wegen unbegründeter Strafanzeige BAG Urt. v. 15. 12. 2016 – 2 AZR 42/16 • Einschaltung der St. A i. d. R. kein Grund für eine Kündigung, da Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte • gilt nicht bei unverhältnismäßiger Reaktion des Arbeitnehmers im Rahmen haltloser Vorwürfe • hier: nicht ordnungsgemäße Bestellung eines Evaluationsbeauftragten
Kündigung wegen Berufung auf nicht bestehendes Zurückbehaltungsrecht – Einschätzungsrisiko – BAG Urt. v. 22. 10. 2015 – 2 AZR 569/14 • fehlerhafte Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts kann beharrliche Arbeitsverweigerung sein • gleichwohl Abmahnungserfordernis
Kündigung wegen Weigerung der Teilnahme an einem elektronischen Warn- und Berichtssystem BAG Urt. v. 17. 11. 2016 – 2 AZR 730/15 • Verweigerung bei Teilnahmepflicht eines Busfahrers kann fristlose Kündigung rechtfertigen • fehlende Einwilligung wird durch BV aufgefangen
Kündigung und verdeckte Videoüberwachung BAG Urt. v. 20. 10. 2016 – 2 AZR 395/15 • Videoüberwachung muss einzig verbleibende Aufklärungsmöglichkeit sein • schwere Verfehlung des MA erforderlich • Sachverwertungsverbot ist denkbar
Videoüberwachung und Zufallsfund BAG Urt. v. 22. 09. 2016 – 2 AZR 848/15 • Zufallsfund im Rahmen einer Videoüberwachung verwertbar • keine Pflicht zum Ausschöpfen aller Aufklärungsmöglichkeiten bei Zufallsfund • § 6 b BDSG unerheblich
Abmahnung als Verzicht auf Kündigung BAG Urt. v. 19. 11. 2015 – 2 AZR 217/15 • Abmahnung ist Verzicht auf Kündigung betreffend die in ihr gerügten Gründe • gilt nur dann nicht, wenn den Umständen zu entnehmen ist, dass der AG die Angelegenheit trotz Abmahnung als noch nicht erledigt betrachtet • „Frauen- und Ausländerhasser“ rechtfertigt Kündigung
IV. Betriebsratsanhörung
§ 102 Betr. VG „Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören. Der Arbeitgeber hat ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung ist unwirksam. “
Kündigungsentschluss Anhörung des BR Reaktionsfrist: fristlose Kündigung – 3 Tage Reaktionsfrist: ordentliche Kündigung – 1 Woche Kündigung
Verkürzung der Anhörungsfrist des Betriebsrats – BAG Urt. v. 25. 05. 2016 – 2 AZR 345/15 • nur abschließende Stellungnahme des Betriebsrats kann das Anhörungsverfahren nach § 102 Betr. VG vorzeitig beenden • besondere Anhaltspunkte müssen für die Annahme von „abschließend“ gegeben sein • anderenfalls Wartepflicht bis Fristablauf trotz Stellungnahme
Reaktionsmöglichkeiten des Betriebsrats: • Zustimmung • Fristablauf (Zustimmungsfiktion) • Bedenken • rein rechtliche/soziale Ausführungen • Widerspruch (nur ordentliche Kündigung)
Widerspruch des Betriebsrats (nur ordentliche Kündigung): • binnen Wochenfrist • nur aus den im Gesetz ausdrücklich genannten Gründen (§ 102 Abs. 3 Betr. VG) • hindert nicht die Möglichkeit des Ausspruchs der Kündigung durch den Arbeitgeber
Widerspruchsgründe: 1. Soziale Gesichtspunkte (nur Sozialauswahl!) 2. Verstoß gegen Auswahlrichtlinie § 95 Betr. VG 3. Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Betrieb oder Unternehmen 4. Umschulung- oder Fortbildungsmöglichkeit 5. Weiterbeschäftigung nach Vertragsänderung bei Einverständnis des Arbeitnehmers
Auswirkungen des (wirksamen) Widerspruchs: BR-Widerspr. Klage Kündigung zum 31. 07. Urteil 31. 07.
Widerspruch sichert Weiterbeschäftigungsanspruch: • kann vom Arbeitnehmer verlangt werden (muss nicht böswilliges Unterlassen i. S. v. § 615 Abs. 1 BGB? ) • ist mit einstweiliger Verfügung durchsetzbar • kann vom Arbeitgeber nur durch einstweilige Verfügung abgewehrt werden (§ 102 Abs. 5 S. 2 Betr. VG; keine „Gegenfreistellung“ möglich)
Häufigste Fehler im Widerspruch des Betriebsrats: • Widerspruch bei fristloser Kündigung • kein Widerspruchsgrund des § 102 Abs. 3 Betr. VG genannt und begründet • Hinweis auf nicht qualifikationsgeeignete Weiterbeschäftigungsarbeitsplätze (Ziff. 3) • Formulierung nur allgemeiner sozialer Gesichtspunkte (Ziff. 1)
Rubrum Sozialdaten Maßnahme Gründe
Rubrum • Name • Beschäftigungsarbeitsplatz
Sozialdaten • Lebensalter • Betriebszugehörigkeit • Unterhaltsverpflichtungen • Schwerbehinderung
Maßnahme • fristlose Kündigung • ordentliche Kündigung zum. . . P: „hilfsweise zum nächst zulässigen Zeitpunkt“ P: „fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächst zulässigen Zeitpunkt“
Gründe • substantiierte Geschichtserzählung (Wer? Wann? Was? Wo? Welche Folgen? ) • keine Auslassung wesentlicher Umstände • müssen zutreffend sein
Umfang der Unterrichtung des Betriebsrats BAG Urt. v. 16. 07. 2015 – 2 AZR 15/15 • AG hat den BR auch über solche Umstände zu informieren, die sich zugunsten des AN auswirken können, obwohl sie für den Kündigungsentschluss des AG irrelevant waren
Sonderfall: Probezeitkündigung • Anhörung des BR erforderlich (!) • verkürzte Begründungspflicht • falls sachlich begründet Wahrheitserfordernis • falls „menschlich“ begründet nur nachvollziehbare Schilderung
Sonderfall: Widerholungskündigung • nur neue Eckdaten zu schildern, wenn enger zeitlicher Zusammenhang zu Ausgangskündigung • keine hohen Anforderungen an Begründung • bloßer Verweis auf Vor-Anhörung ausreichend
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